FES in Russland unter Druck
20. Dezember 2017Der ohnehin schmächtige Junge Nikolaj Desjatnitschenko soll in jüngster Zeit sieben Kilogramm abgenommen haben, berichtete der Gouverneur der sibirischen Jamal-Provinz. Eigentlich wollte Nikolaj aus Nowy Urengoi in Berlin für Frieden und Versöhnung werben. In seiner knapp dreiminütigen Rede erzählte er am Volkstrauertag im Bundestag, wie sehr ihn das Schicksal eines Wehrmachtssoldaten berührte. Im Rahmen eines deutsch-russischen Schülerprojekts fand er das Grab des im Zweiten Weltkrieg gefallenen Georg Johann Rau. "Das hat mich sehr traurig gemacht, denn ich habe Gräber unschuldig gefallener Menschen gesehen, von denen viele in Frieden lebten und nicht kämpfen wollten."
Doch Nikolajs Worte wurden in Russland als "unpatriotisches Mitleid", "Verrat", und mangelndes Wissen über die Geschichte des "Vaterlands" aufgefasst. Berichten zufolge schlug dem Schüler in Russland eine heftige Welle der Entrüstung entgegen und er erhielt Drohungen in sozialen Netzwerken. Viele russische Prominente kritisierten seinen Auftritt scharf. Das Gymnasium in Russland, in dem Nikolaj die 10. Klasse besucht, wurde einer Prüfung unterzogen. Die Leiterin der Schule bekam eine Abmahnung und Nikolajs Deutschlehrerin wurde eine Kündigung nahegelegt.
Friedrich-Ebert-Stiftung gerät ins Visier
In russischen Medien wird behauptet, die deutsche Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) habe das Schülerprojekt finanziert. Beispielsweise meint der Abgeordnete des russischen Parlaments Ewgeni Fjodorow, die FES habe viele junge russische Schülerinnen und Schüler dazu gebracht, den Sieg der Roten Armee im Zweiten Krieg geringzuschätzen. Angeblich habe die FES auch Nikolajs Redetext geschrieben.
Man solle die deutsche Stiftung auf die Liste der unerwünschten Organisationen setzen, fordert Fjodorow. Eine entsprechende Prüfung hat er bei der russischen Staatsanwaltschaft beantragt. Die Antwort soll spätestens Anfang nächster Woche vorliegen. Wenn sie zu Fjodorows Gunsten ausfällt, würde dies für die Stiftung, die den deutschen Sozialdemokraten nahesteht, das faktische Ende ihrer Arbeit in Russland bedeuten.
Kurt Beck, Vorsitzender der FES, erklärte unterdessen, seine Stiftung habe mit dem Schülerprojekt nichts zu tun. "Die Friedrich-Ebert-Stiftung war in keiner Weise, weder finanziell noch organisatorisch noch logistisch, an dem Vortrag des jungen Russen Nikolaj Desjatnitschenko am 19. November 2017 im Deutschen Bundestag beteiligt", betonte er.
Bundesregierung ist besorgt
Die Forderung von Abgeordneten der Staatsduma, die FES als "unerwünschte Organisation" einzustufen, wird vom Auswärtigen Amt mit Sorge gesehen, ebenso wie die "maßlosen Vorwürfe gegenüber der Stiftung, die verschärfte Rhetorik in diesem Fall". Auf Anfrage der DW sagte Rainer Breul vom Auswärtigen Amt, dass die Bundesregierung die Programme des Jugendaustauschs und das gemeinsame Studium der Geschichte beider Länder als wichtiges Element der deutsch-russischen Beziehungen betrachte und diese Arbeit begrüße. Der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge sei in dieser Hinsicht sehr wichtig.
Es war gerade dieser Volksbund und nicht die Ebert-Stiftung, der das Projekt initiierte, an dem eine Gruppe deutscher und russischer Schüler gearbeitet haben. Die Organisation unterstützt seit vielen Jahren insbesondere Projekte zur Erforschung der Biographien von Soldaten aus verschiedenen Ländern, die im Zweiten Weltkrieg getötet wurden. Die gesamten Kosten der Reise der Schüler und einer Lehrer aus Nowy Urengoi nach Berlin wurden vom Volksbund übernommen.
Den Text seiner Rede im Bundestag hatte Nikolaj selbst mit Hilfe seiner Mutter geschrieben. Deutschland schreibe weder deutschen noch russischen Schülern, die im Rahmen des Jugendaustausches nach Deutschland kämen, vor, was sie sagen sollten, unterstrich Regierungssprecher Steffen Seibert. "Der ideologisch und rassistisch motivierte Vernichtungskrieg ging von Deutschland aus. Er brachte unermessliche Grausamkeiten, Mord und Zerstörung. Das ist eindeutig. Veranstaltungen wie die Gedenkstunde im Deutschen Bundestag zum Volkstrauertag sollen gerade dafür sorgen, dass diese Verbrechen nicht in Vergessenheit geraten", stellte Seibert klar.
Weder der Volksbund noch die Bundesregierung verstehen, wie das Moskauer Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung in diese Geschichte hineingezogen werden konnte. Doch Druck der russischen Behörden gegen die in Russland tätigen deutschen politischen Stiftungen ist nichts Neues. Bereits im März 2013 gab es Durchsuchungen bei der FES in Moskau und der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung in Sankt-Petersburg. Sie blieben jedoch ohne Folgen.