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Gesellschaft

G20-Protest: Auf den Spuren der 68er

Alexander Drechsel
5. Juli 2017

Die Demonstrationen gegen das Treffen der G20 in Hamburg sind mannigfaltig. Die Protestkultur ist breiter geworden und hat sogar neue Instrumente an die Hand bekommen. Aber es werden auch alte Fehler wiederholt.

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Aktivisten des Netzwerkes "Attac" tragen Masken mit den Konterfeis der Regierungschefs Trump, Erdoğan, Macron, May, Merkel und Putin und protestieren gegen den G20-Gipfel in Hamburg
Aktivisten des Netzwerkes "Attac" tragen Masken mit den Konterfeis der Regierungschefs Trump, Erdoğan, Macron, May, Merkel und Putin und protestieren gegen den G20-Gipfel in HamburgBild: picture-alliance/dpa/D. Reinhardt

Bunt, kreativ und vor allem friedlich war der Protest in Hamburg vor dem G20-Gipfel in den Messehallen bisher. Mit Kanus, Tretbooten und Flößen schipperten Demonstranten Transparente über die Binnenalster in der Hamburger Innenstadt. An den Landungsbrücken an der Elbe retteten Attac-Mitglieder symbolisch einen überdimensionalen Globus aus den Händen der G20-Staats- und Regierungschefs (siehe Titelbild). Und Greenpeace projizierte Botschaften zur Klimarettung an die Elbphilharmonie. 

Die Protestkultur hat das Stadium von nüchternen Flugblättern und langweiligen Unterschriftenaktionen längst hinter sich gelassen. Nichts scheint zu ausgefallen zu sein, um die Öffentlichkeit auf das eigene Anliegen den eigenen Protest aufmerksam zu machen. Und es war einmal mehr das Internet, das auch hier Weichen stellte.

Neue Mobilisierungsformen

"Die Proteste im analogen Zeitalter sind wegen ihrer konventionelleren Kommunikationsform anders verlaufen als die im digitalen Zeitalter", ist der Hamburger Protestforscher Wolfgang Kraushaar überzeugt. "Flashmobs etwa werden durch soziale Medien und Smartphones überhaupt erst möglich."

Deutschland Hamburg - G20-Gipfel - Demonstration
Unter dem Motto "Lieber tanz ich als G20" protestierten am Mittwochabend Tausende in einem Zug von Motiv- und Musikwagen durch HamburgBild: picture-alliance/dpa/C. Charisius

Eine Protestplattform, die intensiv die Möglichkeiten des Internets nutzt, ist Campact. Der Verein verschickt regelmäßig Newsletter oder startet Kampagnen in den sozialen Medien. Mobilisierung ist das Ziel von Campact. "Wir schaffen es auf der einen Seite, Kerne von Bewegungen zu motivieren. Auf der anderen Seite erreichen wir viele Leute, die an Rändern Punkte sehen, wo sie sich einmischen können", sagt Campact-Vorstand Christoph Bautz. "Wenn ich es mit den 80er Jahren vergleiche: Viele Leute sind nicht mehr mit Haut und Haaren Aktivist. Viele gehen vielleicht mal auf eine Demonstration und wollen lieber ihrem Protest im Internet Ausdruck verleihen."

Vernetzter Protest

Auf das Internet und digitale Vernetzung setzt auch Global Citizen. Die acht Millionen registrierten "Weltbürger" sollen via Twitter, Email oder anderswie Politiker massenhaft auffordern, mehr Steuergelder gegen die extreme Armut auf der Welt zu investieren. Jede Aktion eines Mitglieds für dieses Ziel wird von einer App oder über den individuellen Account gezählt und in Punkte umgewandelt. Wer genügend Punkte hat, hat beispielsweise Chancen, kostenfrei Konzerte zu besuchen - wie etwa das Global Citizen Festival in Hamburg anlässlich des G20-Gipfels.

"Bei Benefiz-Konzerten in den 80ern wie 'Live Aid' hatten die Menschen eine tolle Zeit, gingen nach Hause und vergaßen das eigentliche Anliegen", sagt Global Citizen-Gründer Hugh Evans. "Für uns war die Frage: Wie können die Menschen über viele Monate weiter involviert werden, sodass es zu einem Teil ihrer Identität ihres Lebens wird?"

Protest braucht Masse

Protestforscher Kraushaar betrachtet solche und andere digitale Protestbewegungen mit einer gewissen Skepsis: "Entscheidend ist letztlich aber immer noch, was an Protest in einer sozialen Form auf Straßen und Plätzen zustande kommt. Auch im digitalen Zeitalter ist es keineswegs so, dass die Virtualität die soziale Realität ersetzen kann." Veränderungen gebe es nur, wenn Massen dauerhaft auf die Straße gingen.

In Hamburg versuchen die G20-Kritiker durchaus, den Protest auf die Straße zu bringen - und zwar nicht nur in Form von langen Demonstrationszügen. Für Schlagzeilen sorgen die geplanten Protestcamps in der Stadt. Rund um die Uhr und über alle Gipfeltage hinweg sollen dort Informationsveranstaltungen und Workshops den G20-Gipfel kritisch begleiten. Organisatoren und Polizei streiten seit Wochen über alle Gerichtsinstanzen hinweg, ob die kleinen Zeltstädte eine legale Protestkultur darstellen. Da bislang meist die Polizei Recht bekam und die Camps nur eingeschränkt genutzt werden dürfen, sind die Protestcamper mittlerweile ausgewichen: Einige Zelte stehen inzwischen auf dem Gelände der St. Pauli Kirche und genießen sozusagen Kirchenasyl. Auch das Hamburger Schauspielhaus öffnete seine Türen, um Protestcampern ein Dach über dem Kopf zu bieten.

Die Kulturszene Hamburgs hat schon lange vor dem eigentlichen Gipfelbeginn am 7. Juli auf das Treffen der 20 mächtigsten Politiker der Welt reagiert. Mit Ausstellungen, Aufführungen, Konzerten und Performances wollen die Kulturschaffenden ihre Kritik an der G20-Gruppe in die Bevölkerung tragen.

Massenhaft graue Gestalten

Viel Aufsehen erregte das Projekt "1000 Gestalten". Am 5. Juli strömten hunderte Freiwillige, die zuvor aufwendig eingekleidet und geschminkt worden waren, auf einen zentralen Platz in Hamburg. Grau, mit Lehm verschmiert, wortlos und mit schwerem Gang bevölkerten sie den öffentlichen Raum.

Zombies in Hamburg: Kunstaktion gegen G20

"Es sollten Menschen in die Aktion eingebunden werden, die vielleicht noch nie etwas mit politischem und künstlerischem Protest zu tun hatten. Und das haben wir geschafft", sagt "1000-Gestalten"-Mitinitiatorin Gudrun Schoppe. Rita Kohel, die ebenfalls die Performance mitentwickelte, ergänzt: "Es ist schon etwas ganz Besonderes, wenn man sich normale Protestaktionen ansieht. Es ist eine sehr spielerische und poetische Form, sich Protest zu widmen."

 

"Kunst kann eine Veränderung des Bewusstseins leisten", erkennt Wolfgang Kraushaar an. "Aber sie kann gewiss keine politischen Entscheidungen herbeiführen. Bei ihr geht es um Fantasien und Träume, nicht aber um Realpolitik."

Zu große Agenda?

Viele Proteste in der Geschichte der Bundesrepublik seien durchaus einfallsreich und kreativ gewesen, sagt der Hamburger Wissenschaftler weiter. Der Historiker sieht sogar Parallelen zwischen den G20-Protesten heute und der Studentenbewegung der 68er - allerdings negative.

Die G20-Protest-Performance "1000 Gestalten" ist ein Spektakel. Aber kann sie auch politische Entscheidungen herbeiführen?
Die Performance "1000 Gestalten" ist ein Spektakel. Aber kann sie auch politische Entscheidungen herbeiführen?Bild: DW/A. Drechsel

"Die 68er-Bewegung hatte sich heillos übernommen", sagt Kraushaar. Innenpolitisch habe sie die Notstandsgesetze verhindern, den Axel-Springer-Verlag enteignen und die Ordinarien-Universität abschaffen wollen. Gleichzeitig sei es aber auch noch ihr Ziel gewesen, den Vietnamkrieg zu beenden und die Befreiungsbewegungen der Dritten Welt zu unterstützen. Ähnlich ist es heute bei den G20-Protesten: Handels- und Klimapolitik, Armutsbekämpfung, Schuldenerlass oder generelle Systemkritik stehen zur Debatte. Angesichts dieses Bündels schwergewichtiger Themen resümiert Kraushaar: "Wir sind erneut mit einer multidimensionalen Konfliktarena konfrontiert, die die Protestierenden überfordert."