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"Verbrechen der Wehrmacht"

Marie Todeskino 26. Januar 2014

Vor 70 Jahren endete die Blockade von Leningrad. Im DW-Interview spricht der Historiker Jörg Ganzenmüller über die Belagerung als Teil des deutschen Vernichtungskriegs in Russland und die Schuld der Wehrmacht.

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Historiker Jörg Ganzenmüller
Der Historiker Jörg GanzenmüllerBild: privat

Fast 900 Tage waren die Bewohner von Leningrad von der deutschen Wehrmacht in ihrer Stadt eingeschlossen. Es waren fast 900 Tage voller Hunger und Kälte. Am 8. September 1941 hatten die Deutschen den Blockadering um Leningrad - das heutige Sankt Petersburg - geschlossen. Doch Hitler wollte die zweitgrößte Stadt der Sowjetunion nicht erobern. Er wollte die Menschen in Leningrad systematisch verhungern lassen.

Dann begann der Kampf ums Überleben in der eingeschlossenen Stadt. Die Bewohner aßen bald alles: Sie kochten Leder, kratzten den Leim von den Tapeten, jagten Katzen und Ratten. Und irgendwann kam es auch zu Fällen von Kannibalismus. Rund eine Million Menschen verhungerten und erfroren. Erst am 27. Januar 1944, vor 70 Jahren, konnte die Rote Armee die eingekesselte Stadt befreien. Der Jenaer Historiker Jörg Ganzenmüller hat die Geschichte der Blockade umfrangreich erforscht. Im DW-Gespräch spricht er über den Stellenwert der Tragödie in der Erinnerungskultur und das Leid der Zivilbevölkerung.

Bewohner Leningrads versorgen sich im Winter 1941/42 mit Wasser (Foto: imago/ITAR-TASS)
Bewohner Leningrads versorgen sich im bitterkalten Winter 1941/42 mit WasserBild: imago/ITAR-TASS

Wie erlebten die Menschen von Leningrad das Ende der Blockade?

Die Blockade wurde in zwei Schritten aufgehoben: Anfang 1943 war es der Roten Armee gelungen, einen Versorgungskorridor in den Belagerungsring zu schlagen. So konnte die Stadt schon deutlich besser ernährt werden als zuvor. Aber die endgültige Aufhebung der Blockade am 27. Januar 1944 wurde mit Salutschüssen gefeiert. Die Leute waren sicherlich zu entkräftet, um auf den Straßen zu tanzen, aber die Erleichterung war in der ganzen Stadt sehr groß. Die Bedeutung dieses Tages zeigt sich auch darin, dass er bis heute im kulturellen Gedächtnis wachgehalten und jedes Jahr in St. Petersburg groß gefeiert wird.

In Deutschland spielt die Erinnerung an die Blockade von Leningrad dagegen kaum eine Rolle. Woran liegt das?

In Deutschland wurde lange Zeit an die Orte des deutsch-sowjetischen Krieges erinnert, an denen es besonders viele deutsche Opfer gab. Deshalb ist Stalingrad als Mythos und "deutscher Opfergang" so zentral im deutschen Gedächtnis verankert. An die Verbrechen der Wehrmacht hat man sich bis in die 1980er Jahre hinein kaum erinnert. Die Belagerung von Leningrad wurde als gebräuchliches Mittel der Kriegsführung angesehen. Dabei wurde ausgeblendet, dass Leningrad gar nicht erobert, sondern ausgehungert werden sollte.

Inwiefern wird denn heute mit dem Thema anders umgegangen?

Zum einen haben sich nach der deutschen Einheit ein ost- und ein westdeutsches Bild der Blockade vereint. In der DDR war die Erinnerung an Leningrad sehr viel präsenter als in der alten Bundesrepublik, sie wurde zum Beispiel in Schulbüchern erwähnt. Wichtig war auch die zweite Wehrmachtausstellung, in der Leningrad eine prominente Rolle spielte. Dort wurde die deutsche Strategie der Belagerung in den Kontext der Vernichtungspolitik eingeordnet. Heute ist die Blockade in den Medien deutlich präsenter. 2001 haben etwa der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder und der russische Präsident Wladimir Putin gemeinsam einen Kranz an der zentralen Gedenkstätte der Blockade in St. Petersburg niedergelegt.

Im von der deutschen Wehrmacht belagerten Leningrad wird eine Leiche zur Beisetzung gezogen. (Foto: dpa)
Im von der deutschen Wehrmacht belagerten Leningrad erfroren und verhungerten etwa eine Million Menschen.Bild: picture-alliance/dpa

Sie selbst haben viele Jahre über die Blockade von Leningrad geforscht. Was hat sie dabei am meisten schockiert?

Am eindringlichsten verdeutlichen die menschliche Katastrophe wohl die Überlebensstrategien der eingeschlossenen Menschen. Sie haben Tapeten abgerissen und versucht, den Kleister abzukratzen, Haustiere gegessen – bis hin zu Kannibalismus. Da wird die Extremsituation deutlich, in der sie sich befanden. Beeindruckend sind auch Selbstzeugnisse von Menschen, die darüber reflektieren, was der Hunger mit ihnen macht.

In Ihrem Buch beschreiben Sie die Blockade als Teil der deutschen Vernichtungspolitik. Was sollte damit erreicht werden?

Leningrad wurde während des Russlandfeldzugs schnell zum Nebenkriegsschauplatz. Die deutsche Seite hat die Stadt vor allem unter dem Aspekt ihrer Versorgungspolitik betrachtet. Denn während des Russlandfeldzugs wollte man die gesamte Wehrmacht aus dem Lande ernähren. Im Vorfeld hatte man ausgerechnet, dass dies nur möglich sei, wenn die sowjetische Zivilbevölkerung Hunger leiden würde. Die großstädtische Bevölkerung wurde in diesem Zusammenhang bereits als diejenige bezeichnet, die man nicht ernähren könne. Als die Wehrmacht im Sommer 1941 Nachschub- und Versorgungsprobleme bekam, hieß es, man könne nicht auch noch eine 3-Millionen-Stadt ernähren.

Also es war von Anfang an gar nicht vorgesehen, die Stadt zu erobern.

Das ist schwierig zu beurteilen. Aber es gibt die klare Weisung Hitlers, dass Leningrad dem Erdboden gleichgemacht werden sollte. Die Frage war eigentlich: Was passiert dann mit der Bevölkerung? Da gab es keine klaren Äußerungen, auch die Frage einer Vertreibung der Bevölkerung stand zunächst im Raum. Als die Wehrmacht dann vor Leningrad stand, hielt man eine Vertreibung für nicht durchführbar, gleichzeitig wollte man die Bevölkerung nicht ernähren. Da wurde aus der Zerstörungsabsicht eine Belagerungsstrategie, die letztlich auf die Vernichtung der gesamten Bevölkerung hinauslief.

Zwei deutsche Wehrmachtsoldaten, darunter Generalmajor Walter Krüger, beobachten Angriffe auf die sowjetische Verteidigungslinie vor Leningrad (Foto: Ullstein)
Zwei deutsche Wehrmachtsoldaten beobachten Angriffe auf die sowjetische Verteidigungslinie vor LeningradBild: Ullstein

Warum wollte Hitler denn gerade Leningrad vernichten?

Es ging ihm generell um die Zerstörung sowjetischer Großstädte, vor allem in Nord- und Zentralrussland. Häufig nannte er Leningrad und Moskau in einem Atemzug.

Inwiefern ist Leningrad ein Beispiel für Kriegsverbrechen in der Wehrmacht?

Die deutsche Hungerpolitik wurde an zwei Stellen besonders umfassend umgesetzt: in Leningrad und bei der Behandlung der sowjetischen Kriegsgefangenen. Das sind Verbrechen, die unter dem Kommando der Wehrmacht stattfanden. Insofern sind das ganz klare Beispiele für Verbrechen der Wehrmacht und nicht etwa anderer Organisationen wie der SS.

Jörg Ganzenmüller lehrt Osteuropäische Geschichte an der Universität Jena. Er hat u.a. ein Buch über die Blockade von Leningrad und ihren Stellenwert in der deutschen und russischen Erinnerungskultur geschrieben.

Jörg Ganzenmüller, Das belagerte Leningrad 1941 bis 1944. Die Stadt in den Strategien von Angreifern und Verteidigern. Schöningh, Paderborn u.a. 2005.