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PolitikEuropa

Der letzte Kampf des russischen Imperialismus

Jörg Himmelreich Kommentarbild App PROVISORISCH
Jörg Himmelreich
9. Oktober 2022

Die Indizien aus der vergangenen Woche sind unübersehbar: Russland geht in der Ukraine einer Niederlage entgegen. Das wurde an Wladimir Putins 70. Geburtstag deutlich sichtbar, meint Jörg Himmelreich.

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Karikatur von Sergey Elkin: Eine Torte mit der Zahl 70, von der rote Marmelade oder Blut tropft. Auf der Mitte der Torte eine brennende Kerze in Form einer Büste von Wladimir Putin
Fröhlich wirkte Wladimir Putin an seinem 70. Geburtstag nicht - der russische Blutzoll in der Ukraine wird immer größerBild: DW

Was für ein Gegensatz: An seinem 70. Geburtstag meldete sich Wladimir Putin lediglich mit einem trockenen, emotionslosen Verlesen des Ergebnisprotokolls vom Treffen der Präsidenten der GUS-Staaten am gleichen Tag zu Wort. Ganz anders sein Auftritt genau eine Woche zuvor, als er mit einer fast krankhaften, hysterischen Hassrede die Annexion der vier ostukrainischen Teilregionen geradezu herausgeschrien hatte.

Nun räumte Putin plötzlich ein, dass "wir es in der Ukraine mit einer Tragödie zu tun haben". Ohne freilich zuzugeben, dass diese Tragödie auf seinen brutalen Angriffskrieg zurückgeht. Jetzt also auf einmal keine nach Plan verlaufende Spezialoperation mehr. Die militärische Wirklichkeit in der Ukraine mit ihren hohen Verlusten an Soldaten und Material sowie den schmählichen Niederlagen der russischen Armee ist ohnehin kaum mehr zu leugnen. Die Staatspropaganda kommt gegen die Massen an entlarvenden Nachrichten, Fotos und Videoclips in den Sozialen Medien und der russischen Militärbloggerszene nicht mehr an.

Putins Machtbasis erodiert

In der Woche zwischen der aggressiven Annexionsrede und dem monotonen Protokollvortrag hat sich die politische Situation für Putin grundlegend verändert: Das militärische Desaster in der Ukraine wird immer offensichtlicher und damit erodiert Putins Machtbasis - hatte er doch in seinem Größenwahn die schnelle Annexion der ganzen Ukraine angestrebt.

Porträt von Jörg Himmelreich
DW-Gastautor Jörg HimmelreichBild: privat

Schon kündigen sich erste Anzeichen von Diadochenkämpfe um Putins Nachfolge an: Ramsan Kadyrow, den Putin aufgrund seiner skrupellosen tschetschenischen Kämpfer dringend braucht, kritisiert offen die Armeeführung um Verteidigungsminister Schoigu und Generalstabschef Gerassimow, die Putin genauso braucht. Dennoch - oder gerade deshalb - wurde Kadyrow von Putin in der vergangenen Woche mit der Ernennung zum Armeegeneral belohnt. Putin muss erste Zugeständnisse an seine Machtbasis machen - bis vor kurzem noch völlig undenkbar.

Mit der Betonung der Zusammenarbeit in der "Gemeinschaft Unabhängiger Staaten" (GUS) bemüht sich Putin zugleich verzweifelt den Eindruck zu widerlegen, Russland sei international isoliert. Aber auch das ist nur die Kulisse eines Potemkinschen Dorfes. Denn die Spannungen und Fliehkräfte innerhalb der GUS sind viel zu stark, als dass Putin ihrer noch Herr werden könnte.

Das Dilemma des russischen Imperialismus

Damit ist auch Putin am klassischen Dilemma des russischen Imperialismus gescheitert: sich aufgrund seiner Kultur, seines Reichtums an Bodenschätzen und seiner Masse an Land und Menschen allen anderen Ethnien des eurasischen Kontinents für überlegen zu halten. Und deswegen ein historisch begründetes Recht zur permanenten imperialen Kolonisierung und Expansion zu reklamieren. Ohne allerdings dauerhaft über die notwendigen Ressourcen zu verfügen, dieses Imperium dann auch zusammenzuhalten. Daran ist schon das russische Zarenreich im Ersten Weltkrieg untergegangen, wie später auch die UdSSR mit ihrem Zusammenbruch 1991.

Die Nationalbewegungen des 19. Jahrhunderts - darunter auch die ukrainische - führten mit deren Niederlage im Ersten Weltkrieg zum Ende dreier Imperien: des Zarenreichs, des Osmanenreichs und des Habsburgerreichs. Der UdSSR gelang es, das mit der Oktoberrevolution von den Kommunisten übernommene russische Imperium noch bis 1991 zu verlängern.

Das Scheitern des alten Denkens

Faktisch ist die russische Invasion in die Ukraine ein ideologischer Konflikt des 19. Jahrhunderts: zwischen Imperium und dem nach Unabhängigkeit strebendem Nationalstaat Ukraine. Er wird seitens des Imperiums mit den militärischen Mitteln des 20. Jahrhunderts ausgetragen - mit der berüchtigten russischen Feuerwalze, die mit der weit überlegenen Masse an Waffen und Soldaten jeden Gegner platt walzt.

Dieses Imperium hat aber trotz seiner Überzahl keine Chance gegen die junge Ukraine mit ihrer intelligenten Kriegstaktik des 21. Jahrhunderts sowie dem hochtechnologisierten Waffenarsenal aus den USA. Putin, ein Mann des KGB und des imperialen UdSSR-Denkens des vergangenen Jahrhunderts, scheitert, weil er nicht versteht, wie weit sich Militärtechnologie und politisches Denken inzwischen modernisiert haben.

Das Zeitalter der Imperien ist längst vorüber. Einmal mehr in seiner Geschichte hinkt Russland mit Putin weit hinterher, diese Moderne zu erkennen und mitzugestalten, anstatt sie ahistorisch und rückwärtsgewandt umkehren zu wollen. Dieser Versuch ist zum Scheitern verurteilt, wie es sich in diesen Wochen einmal mehr erweist.

 

Dr. jur. Jörg Himmelreich ist Professeur Affilié an der École Supérieure de Commerce à Paris (ESCP), Campus Berlin. Bereits 2007 warnte er in der Zeitschrift "Internationale Politik" der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik erstmals vor dem Vorgehen Wladimir Putins.