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PolitikEuropa

Putin und seine ukrainischen Träume

Kommentatorenbild - Schriftsteller Viktor Jerofejew
Viktor Jerofejew
23. Februar 2022

Der Präsident Russlands hat der westlichen Welt eine weitere Ohrfeige verpasst. Die entscheidende Frage ist, wie viele in naher Zukunft noch folgen werden, meint der russische Schriftsteller Viktor Jerofejew.

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Putin am Rednerpult zwischen zwei russischen Fahnen
Wladimir Putin bei der Pressekonferenz, bei der er die Anerkennung der Regionen Luhansk und Donezk bekannt gabBild: Sergey Guneev/Kremlin/Planet Pix/Zuma/dpa/picture alliance

Die ganze westliche Welt ist entsetzt. Und Putin feiert seinen nächsten Sieg. Er fürchtet keinerlei Sanktionen und ist bereit, einen großen Krieg zu führen, denn er hält die Ukraine letztlich für einen Fake-Staat. Neuerdings ist er unter die Historiker gegangen und hat entdeckt, dass die Ukraine nur eine Erfindung ist von ... - na, kommen Sie drauf? Lenin! Denn ausgerechnet in der Kiewer Rus liegt ja der historische Ursprung Russlands - und eben nicht der Ukraine.

Die Ukraine ist jetzt ein feindlicher Staat, da regieren laut Putin Neonazis und Nationalisten. Aber das Volk ist ein Brudervolk, die Menschen dort - das sind wir! Das Problem ist bloß: Müssen wir sie töten, im Falle des Falles? Es gibt doch diesen Begriff: Unmenschlichkeit. Und das Schicksal der Ukraine wie auch das von Belarus soll im Namen des Triumphs der russischen Welt, des russischen Imperiums und der Gerechtigkeit in Putins Hand liegen. Aber welcher Gerechtigkeit?

Vier Faktoren in Putins Welt

Hier muss man einen Blick in jene Realität werfen, in der unser Zar der Halbstarken lebt und die er seinen Kremlgenossen weismachen will. Vielleicht ist ja dem einen oder anderen unter ihnen diese Realität längst im Hals stecken geblieben - doch zeigen tut es bisher jedenfalls keiner. Nun denn, die Welt des Zars der Halbstarken setzt sich aus mindestens vier Faktoren zusammen:

Kommentatorenbild - Schriftsteller Viktor Jerofejew
Viktor Jerofejew ist russischer Schriftsteller Bild: picture alliance/W. Minich

Erstens - der Petersburger Hinterhof. Da leben "Gopniki" - eben Halbstarke - nach ihren eigenen Gesetzen. Das Wichtigste dort ist siegen, andere demütigen und vergewaltigen.

Zweitens - asiatische Kampfsportarten, eine weitere Facette in Putins Bewusstsein, die zum Siegen antreibt.

Drittens - seine Tätigkeit beim KGB. Der Kampf gegen Feinde im Namen des Sieges.

Viertens - die Wiederherstellung der Grenzen der Sowjetunion. Das ist gerecht, denn die Amerikaner haben (in dieser Denkwelt) die große Sowjetunion zerstört, auseinandergeklaubt wie Kartoffeln aus dem Lagerfeuer, Republiken in ihr eigenes Lager gelockt. Aber die russische Welt sinnt auf Rache. Rache ist das Lieblingswort des Zaren!

Ist die Einnahme des Donbass etwa kein Fehler?

Mit der Anerkennung der "Volksrepubliken" Donezk (DNR) und Luhansk (LNR) durch den Kreml wurden automatisch die Minsker Vereinbarungen aufgekündigt. Und an denen zappelte doch  Selenskyj wie am Haken - so drückte sich der russische Außenminister bildlich aus. Wie also jetzt noch Druck auf Kiew ausüben?War Selenskyj nicht aus diesem Grund in seiner nächtlichen Ansprache so ruhig? Weil seine Schlinge um den Hals abgenommen wurde? 

Aber der Donbass gehört Putin ja ohnehin schon seit 2014. Und überhaupt: Nicht umsonst sagte der frühere ukrainische Präsident Wiktor Juschtschenko einmal, der Ukraine sei der Donbass vollkommen fremd - keinerlei ukrainische Mentalität! Gilt übrigens auch für die Krim. Und die Ukraine ist mit dieser Mentalität sehr indifferent und wenig geschickt umgegangen. Deshalb hat sich der Donbass abgespalten.

Wie schlau wurde alles von Putin eingefädelt?

Die Amerikaner haben ihre Botschaftsangehörigen aus Kiew mit dem Hinweis abgezogen, Putin könne Kiew einnehmen. Damit nahmen sie einem solchen Angriff jeden Überraschungseffekt. Dabei liebt Putin Überraschungseffekte. Überraschungseffekte sind ihm wichtiger als alles andere.

Und was tut Putin? Das ist ein Thema für einen sentimentalen Kriegsroman: Im Donbass ereignen sich, wer hätte das gedacht, Explosionen, ein Militärfahrzeug fliegt in die Luft, subversive ukrainische Kräfte - fünf Mann hoch - überschreiten die russische Grenze. Sie werden getötet. Und als Folge sehen wir Flüchtlinge aus dem Donbass: Zehntausende Frauen mit kleinen Kindern, praktisch ohne Gepäck, die nach Russland fliehen. Dort erwarten sie 10.000 Rubel, etwa 110 Euro pro Person, und ein stürmischer Empfang. Unsere Landsleute (im Fernsehen und in den Sozialen Netzwerken) sind begeistert von der Humanität des Kremls!

Nur aufmüpfige Intellektuelle (immer dieselben Namen) schreiben einen offenen Brief mit Verwünschungen des Regimes. "Verflucht sollt ihr sein", heißt es da. Jetzt und in der Zukunft. Als Antwort: Schweigen im Kremlwalde. Denn die Mehrheit des russischen Volks steht auf der Seite des Kremls: vom Duma-Abgeordneten bis zum Obdachlosen.

Wie soll der Westen jetzt reagieren?

Allerdings ist die Anerkennung der "Volksrepubliken" im Donbass durch den Zaren der Halbstarken vom Standpunkt des Völkerrechts ein Riesenskandal. Was soll die westliche Welt jetzt machen, was soll die Ukraine tun?

Wäre ich an europäischen Entscheidungsstrukturen beteiligt, würde ich sagen: Gebt der Ukraine so schnell wie möglich die Chance zum Beitritt in die EU. Das wäre eine reale Hilfe in der jetzigen Situation. Doch das wird - zu Putins unbändiger Freude - kaum passieren. Die ganze Empörung des Westens wird sich allmählich legen wie eine Staubwolke. Garantiert werden neue Debatten über den Umfang der heftig umstrittenen Wirtschaftssanktionen losgehen.

Aber unser Zar hat überhaupt keine Angst vor Europa, Emmanuel Macron hält er für Joe Bidens Postboten und Olaf Scholz‘ reale Macht für ebenso überschaubar. Ihn interessiert einzig und allein Biden - ein ihm, so meint er, an Macht ebenbürtiger Halbstarker. Ein Cowboy. Deshalb wurde auch das Thema Grenzen von Putin aufgeworfen. In der Ukraine verläuft die russisch-amerikanische Grenze. Eine andere gibt es für ihn nicht.

Zwischen Friedenswunsch und Kriegsfurcht

Wird Putin diese Grenze überschreiten?

Dazu könnte er vier verschiedene Träume haben:

Der erste, kleine Traum ist es, den Donbass bis zu den Grenzen der Oblaste Luhansk und Donezk zu erweitern. Das bedeutet realen Krieg, Blut und viele Tote. Man würde in Mariupol und an anderen Orten kämpfen müssen.

Der zweite - das ist Noworossija, Neurussland. Über diesen Traum, neuerdings wieder zum Leben erweckt, wurde bereits 2014 viel geredet: Der Ukraine die Gebiete von Charkiw bis Moldawien, inklusive das schöne Odessa, wegnehmen. Das würde noch mehr Blut und Tote bedeuten. Und wenn schon...

Der dritte Traum - Kiew einnehmen und eine eigene, Moskau-treue Regierung einsetzen. Ein Meer von Blut. Aber welcher Halbstarke zählt schon die Toten? Nur ein Schwächling.

Schließlich der vierte Traum - die ganze Ukraine einnehmen und bis an die polnische Grenze vordringen. Das ist der echte Traum von der Wiederherstellung der Grenzen der Sowjetunion. Ja, damit wird man sich herumschlagen müssen. Aber die Mühe lohnt sich.

Die Ukraine braucht unsere Hilfe!

Was im Donbass jetzt geschehen ist, lässt sich als ein Wechsel vom #Wirsindgarnichtdort zum #Jetztsindwirhier beschreiben. Aber durch den Etikettenwechsel hat sich das Wesen der Dinge nicht geändert. Wenn die Träume des Zaren der Halbstarken vorerst Träume bleiben, bekommt die Ukraine eine Verschnaufpause. Aber die Minsker Vereinbarungen sind tot. Mehr noch: Die Ukraine wird zum stolzen Opfer. Sie kann das schaffen, jedoch braucht sie unsere Hilfe!

Putin hat der westlichen Welt eine weitere Ohrfeige verpasst. Wie viele gab es schon? Man kann sie gar nicht mehr zählen. Die Annexion der Krim war wohl die heftigste bisher. Jetzt der Donbass - das ist ein starkes Stück. Putin ist schon ein toller Kerl! Er ist mit sich zufrieden.

 

Aus dem Russischen von Beate Rausch

Viktor Jerofejew, Jahrgang 1947, ist ein russischer Schriftsteller. 1979 wurde er aus dem Schriftstellerverband der Sowjetunion ausgeschlossen. International bekannt wurde er 1990 mit dem Roman "Die Moskauer Schönheit", der in 27 Sprachen übersetzt wurde. Er lebt in Moskau und äußert sich regelmäßig kritisch zur Politik Wladimir Putins.