Was die Litauer lesen - und was man über sie lesen kann
20. März 2017Litauen ist zu Recht Gastland auf der diesjährigen Leipziger Buchmesse, denn: Bücher sind uns Litauern heilig. Wir lieben sie so sehr, dass wir sogar Schmuggel mit ihnen betrieben haben. Im 19. Jahrhundert hatte der russische Zar Bücher mit lateinischer Schrift verboten und ließ nur noch kyrillische Schrift zu. Daraufhin wurden Geheimtransporte organisiert. Trotz drohender Verbannung oder sogar Todesstrafe gingen Schmuggler große Risiken ein, schufen ausgeklügelte Netzwerke und transportierten bis zum Ende des Verbots im Jahr 1904 sogar amerikanische Editionen bis nach Litauen.
Diese abenteuerlichen Zeiten sind vorbei, doch fasziniert sind wir immer noch von dem Medium. Die jährliche Buchmesse in Vilnius, die Ende Februar stattfindet, zieht immer tausende Besucher an. Die Leser wollen hier die Neuerscheinungen erwerben - und das zum möglichst günstigen Preis. Es ist kein großes Geheimnis, dass wir Litauer auch Schnäppchenjäger sind.
Uns interessieren die Lesungen und Podiumsdiskussionen, natürlich lernen wir auch gerne berühmte Schriftsteller persönlich kennen, wie etwa den unermüdlichen 85-jährigen Journalisten und Autor Algimantas Čekuolis, der jedes Jahr ein neues Buch herausbringt.
Bücher sind stärker als Facebook
Für mein Empfinden lesen die Litauer Bücher nicht nur zur Unterhaltung, sondern auch, um sich eine gewählte Ausdrucksweise zu bewahren. Ein Facebookposting in lupenreiner Sprache bekommt schließlich mehr Likes... Scherz beiseite, wir lesen einfach leidenschaftlich gerne, und daran hat das Social-Media-Zeitalter nichts geändert.
Ein großer Teil der litauischen Bücher ist fiktional, es gibt aber auch jede Menge Sachbücher - etwa in Sparten wie Psychologie, Neurolinguistik und Körpersprache. Kochbücher sind ebenfalls populär - und am beliebtesten sind Kinderbücher.
Die durchschnittliche Auflage eines Buches liegt bei etwa 1300 Exemplaren. Sie ist pro Buch in den letzten Jahren zwar dramatisch geschrumpft, was aber nicht an den Verkaufszahlen insgesamt liegt, sondern daran, dass viel mehr Titel in jeweils kleinerer Auflage erscheinen. In Litauen spricht man ab 3000 verkauften Exemplaren von einem Bestseller, sagt Aida Dobkevičiūtė, Chefin des litauischen Verlegerverbandes.
US-Literatur wird am meisten übersetzt
Die Hälfte der veröffentlichten Bücher stammen aus der Feder von litauischen Autoren, die andere Hälfte sind Übersetzungen aus dem Ausland, von denen die meisten aus englischsprachigen Ländern stammen, insbesondere den USA. Französische und deutsche Literatur ist weniger gefragt.
2015 war das Lieblingsbuch des damaligen US-Präsidenten Barack Obama "Fate and Furies" von Lauren Groff - und dieses Buch verkauft sich momentan in Litauen besonders gut. Allerdings sind die Zahlen mit Vorsicht zu genießen, befindet sich doch die größte Buchkette des Landes im Eigentum des größten Verlages. Andere ausländische Bestseller wie "Harry Potter" und "Fifty Shades of Grey" verkaufen sich auch in Litauen gut, trotz der eher nachlässigen Übersetzung ins Litauische.
Ein Grund für die Nachlässigkeit unter anderem ist, dass die Verlagshäuser unter Druck stehen, die Übersetzungen so schnell wie möglich auf den Markt zu bringen. Schließlich sprechen mittlerweile viele Menschen Englisch und könnten sich sonst das Original besorgen. Gerade in Zeiten von einfach downloadbaren E-Books, ist der Ungeduld der jüngeren Generation schwer beizukommen.
Litauer lesen gerne über ihr eigenes Land
Abgesehen von ausländischen Bestsellern lesen die Litauer gerne die eigenen Autoren. Allen voran den vierteiligen Historienroman "Silva Rerum", lateinisch für "Wald der Dinge". Er handelt von einer Aristokratenfamilie, die im 17. und 18. Jahrhundert in der Hauptstadt Vilnius und der nördlichen Region Samogitien lebt. Die Autorin Kristina Sabaliauskaitė ist Kunsthistorikerin, wuchs in Vilnius auf und lebt mittlerweile in London. In ihrem akribisch recherchierten Buch lässt sie ein überraschendes Litauen auferstehen, voller Widersprüche und Vielfalt. Der Grund für ihren Erfolg? Vielleicht mögen es die Litauer mittlerweile etwas moderner und extravaganter. Die "Silva rerum"-Saga ist auf städtische Lebenswelten fokussiert, spielt mit den Mythen von Vilnius und ist in opulenten Sätzen geschrieben.
Vor einigen Jahren war noch der Steampunk-Roman "Die Stunde des Wolfes" das Werk der Stunde. Das Buch entwarf ein alternatives Vilnius der Zwanziger Jahre und wurde sofort zum Bestseller. Auch eine Fortsetzung gab es. Mittlerweile konzentriert sich der Autor des Buches, der Journalist Andrius Tapinas, aber mehr auf seinen YouTube-Kanal als aufs Schreiben.
Auch einige Sachbücher über Vilnius konnten Erfolge verzeichnen: Das meistverkaufte Buch war "1000 historische Relikte von Vilnius", in dem der Autor Darius Pocevičius gründliche Recherchen über alte Gebäude, Inschriften und die Ursprünge der Straßennamen präsentierte. Er sagte, er habe das Buch aus Liebe geschrieben, als er erkannte, "wie viele blinde Flecken es in der Stadtgeschichte noch gibt." Damit sind in erster Linie Spuren von polnischen, jüdischen, russischen und deutschen Einwohnern gemeint, die nach dem Zweiten Weltkrieg verschwunden waren. Die Faszination scheint ungebrochen: Auch in diesem Jahr sind neue Bücher über Vilnius erschienen, über die christlichen Wurzeln der Stadt, die Geschichte des beliebten zentralen Marktplatzes und die berühmtesten Liebesgeschichten. Sie alle wurden bei der Buchmesse in Vilnius neugierig aufgenommen.
Wir laden euch ein, uns kennenzulernen
Laimonas Briedis, studierter Humangeograph und Autor von "Vilnius. City of Strangers" ("Die Stadt der Fremden"), zeigt in seinem Buch die Hauptstadt aus der Perspektive der Fremden, die die Stadt besucht haben: Dazu gehören die Berichte von Napoleon Bonaparte genauso wie die von Fjodor Dostojewski. Auch Stendhal und Alfred Döblin waren in Vilnius und haben ihre literarischen Erinnerungen hinterlassen. Briedis argumentiert, dass die Erzählungen von Vilnius den Kern europäischer Identität berühren, denn die Stadt war eine bunte Mischung aus verschiedensten Nationalitäten und Religionen - von heidnischen Litauern und katholischen Polen über orthodoxe oder jüdische Russen bis hin zu protestantischen Deutschen und muslimischen Tartaren.
Es ist ein wichtiges Buch, um den Litauern ihre Wurzeln vor Augen zu führen und ihr Image in anderen Teilen der Welt zu verbreiten. Es soll ein breites Publikum ansprechen, weswegen es Laimonas Briedis - in Vilnius geboren und nach Kanada emigriert - auch auf Englisch verfasst hat.
Nicht nur berühmte litauische Autoren wie Sabaliauskaitė oder Briedis leben im Ausland, auch viele andere haben ihr Land verlassen. Wir witzeln immer, dass man Litauer in jeder Ecke der Welt finden kann. Trotzdem müssen wir immer wieder feststellen, dass Menschen im Ausland nicht wissen, wo Litauen liegt, oder Vilnius mit Riga, der Hauptstadt Lettlands, verwechseln. Darüber schauen wir großzügig hinweg.
Dennoch freuen wir uns, wenn jemand Ahnung von uns und unserem Land hat. Deswegen sind wir auch so glücklich über Bücher von Litauern, die in anderen Sprachen geschrieben oder übersetzt werden: Endlich eine Chance, mehr über uns zu erfahren! Deswegen wollen wir als Gastland der Leipziger Buchmesse auch einen besonders guten Eindruck machen - genau wie nächstes Jahr in London, zu dessen Buchmesse Litauen zusammen mit Estland und Lettland eingeladen ist.