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PolitikNahost

Gaza: Das schwierige Ringen um Hilfslieferungen

5. April 2024

Nach langem Ringen hat Israel angekündigt, den Hafen von Aschdod und den Grenzübergang Eres für Hilfslieferungen nach Gaza zu öffnen. Doch warum ist es überhaupt so schwer, die Hilfen zügig zu den Menschen zu bekommen?

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Israel | Temporäre Öffnung des Hafens von Ashdod für Gaza-Hilfslieferungen
Checkpoint am israelischen Hafen von AschdodBild: Hannah McKay/REUTERS

Der Grenzübergang Rafah zwischen Ägypten und dem Gazastreifen ist ein Nadelöhr. Der Durchlass ist gerade einmal wenige Meter breit, Lastwagen passieren die Engstelle nur langsam, einer nach dem anderen. Wenn die Fahrer es bis dorthin geschafft haben, dann haben sie schon eine langwierige Prozedur hinter sich.

Ihre Ladung haben sie in Jordanien oder Ägypten aufgenommen. Auch im israelischen Hafen von Aschdod liegen seit Januar tausende Tonnen Hilfsgüter vor Anker. Diese wurden jedoch bislang von der israelischen Regierung nicht nach Gaza gelassen, da sie durch das Palästinenserhilfswerk UNRWA verteilt werden sollen. Israel wirft mehreren UNRWA-Mitarbeitern eine direkte Beteiligung am terroristischen Überfall der militant-islamistischen Hamas vom 7. Oktober auf Israel vor und verweigert deshalb jegliche Zusammenarbeit mit dem Hilfswerk. Die palästinensische Miliz, die den Gazastreifen seit 2007 regiert, wird von Israel, den USA, Deutschland und vielen weiteren Staaten als Terrororganisation eingestuft.

Erst unter dem Eindruck des tödlichen Angriffs auf einen Hilfskonvoi der Organisation World Central Kitchen und nach massivem Druck der USA hat sich Israel nun bereit erklärt, "vorübergehend" Hilfslieferungen auch über den Hafen von Aschdod zuzulassen. Dazu soll nun auch der Grenzübergang von Eres im Norden des Gazastreifens zumindest temporär geöffnet werden.

Strenge Kontrollen, langwierige Prozesse

Die meisten Güter müssen jedoch weiterhin zunächst quer durch die Wüste transportiert werden - allerdings nicht direkt in den Gazastreifen. Erst müssen die Trucks einen von zwei israelischen Kontrollpunkten an der israelisch-ägyptischen Grenze ansteuern, an denen ihre Ladung intensiv gecheckt wird. Die Checkpoints liegen in Kerem Shalom nahe Gaza und im etwa 40 Kilometer entfernten Nitzana.

Israel hat die Grenze bei Kerem Shalom zwar mittlerweile auch Richtung Gaza geöffnet - allerdings nur für UN-Hilfen. Alle anderen LKWs werden nach Rafah geschickt, wo sie sich in eine lange Warteschlange einreihen müssen. Manche Lieferungen brauchen Tage, wenn nicht Wochen, bis sie tatsächlich in Gaza ankommen.

Ob und inwiefern diese Kontrollprozeduren auch für Hilfslieferungen über Aschdod und Eres gelten, oder ob dafür ein weiterer Checkpoint eröffnet wird, blieb zunächst unklar.

"Es stehen über 1000 Lastwagen bereit, um Lebensmittel in den Gazastreifen zu fahren", erklärte Martin Frick, Direktor des deutschen Büros des UN-Welternährungsprogrammes (WFP), noch Mitte März im Gespräch mit der DW. Doch die strengen israelischen Kontrollen, Proteste von Israelis gegen die Lieferungen und die katastrophale Situation in Gaza verlangsamen die Hilfslieferungen stark.

Wenn humanitäre Hilfe für Gaza blockiert wird

Auf israelischer Seite ist das "COGAT" verantwortlich für die Organisation humanitärer Hilfe - das im Verteidigungsministerium angesiedelte "Koordinationsbüro für Regierungsaktivitäten in den (palästinensischen) Gebieten". Nach dessen Richtlinien werden die Hilfsgüter kontrolliert. Minutiös listet das COGAT auf seiner Webseite auf, wie viele Hilfsgüter nach Gaza gelangen. Am 3. April 2024 zählte es 217 Lastwagen, die einreisen durften, an vielen Tagen sind es weniger. "Eigentlich bräuchte es mindestens 300 Lastwagen, die täglich die Grenze passieren", so Frick. Vor Ausbruch der Kampfhandlungen seien täglich 500 LKW-Ladungen nach Gaza gebracht worden. 

Großer Spielraum beim Ablehnungsgrund "Dual Use"

Es heißt, die Hamas zweige Teile der Hilfslieferungen für sich ab. Unabhängig ist das kaum zu prüfen. Israels größte Sorge aber ist, dass über die Transporte militärische Güter in die Hände ihrer Gegner gelangen könnten. Akribisch wird daher jede Hilfslieferung kontrolliert. Insbesondere sogenannte "Dual Use"-Güter benötigen eine spezielle Einfuhrerlaubnis für Gaza. Dabei handelt es sich um Waren, die zu zivilen, womöglich aber auch zu militärischen Zwecken genutzt werden könnten. Der Ermessensspielraum, welche Güter tatsächlich darunter fallen, ist für die israelischen Kontrolleure groß. 

Die israelische Menschenrechtsorganisation Gisha verfolgt seit Jahren, welche Güter unter diese Restriktionen fallen. Einige werden sehr detailliert aufgelistet, andere nur vage beschrieben, etwa als "Kommunikationsequipment". Gisha kam bereits im Februar 2023 zu dem Schluss, dass die Liste der Gegenstände, die Israel für die Einfuhr in die palästinensischen Gebiete als "Dual Use" definiert, weit über den international anerkannten Standard hinaus gehe. Der Abschnitt der Liste, der sich auf Gaza bezieht, sei "besonders lang". 

Bewaffnete Soldaten vor einem LKW-Konvoi mit mindestens fünf Fahrzeugen an einer geöffneten Durchfahrtsperre
Israelische Soldaten in Kerem Schalom kontrollieren Ende 2023 Lastwagen mit Hilfsgütern für GazaBild: Enes Canli/Anadolu/picture alliance

Dies bekommen nun auch die internationalen Hilfsorganisationen zu spüren. So sollen bei israelischen Kontrollen unter anderem Zeltstangen zurückgewiesen worden sein, weil sie aus Metall bestanden. Auch Narkosemittel, Sauerstoffflaschen oder Wasserfiltersysteme sollen bereits abgelehnt worden sein. Von Schlafsäcken, die nicht durchgelassen wurden, weil sie Reißverschlüsse besaßen, oder Damenhygiene-Sets, weil darin auch ein Nagelknipser enthalten war, berichtete die US-Chefin von Save the Children, Janti Soeripto, der CNN. Und Chris van Hollen, demokratischer Senator des US-Bundesstaates Maryland, erklärte nach seiner Nahostreise Anfang Januar: "Wir haben erfahren, dass, wenn nur einer dieser Gegenstände abgelehnt wird, der gesamte Lastwagen umdrehen und zum Anfang des Prozesses zurückkehren muss, was Wochen dauern kann."

Im Gespräch mit der DW berichtet auch Martin Frick vom Welternährungsprogramm von zahlreichen Hilfslieferungen, die bereits abgelehnt worden seien: "Wir haben im Februar von 24 angemeldeten Konvois in den Norden des Gazastreifens gerade einmal sechs genehmigt bekommen", berichtet Frick. "Das ist viel zu wenig. Die Hilfe dorthin müsste eigentlich massiv fließen." 

Martin Frick, Deutschland-Chef des UN-Welternährungsprogramms (WFP), bei einer Videokonferenz
Martin Frick, Deutschland-Chef des UN-Welternährungsprogramms (WFP), fordert dringend eine dauerhafte Öffnung weiterer Grenzübergänge für Hilfslieferungen nach GazaBild: DW

Den Anschuldigungen einiger Hilfsorganisationen, bestimmten Gütern werde pauschal die Einfuhr verweigert, hat COGAT in einer Erklärung widersprochen: "Israel unterstützt, ermutigt und erleichtert die Einfuhr humanitärer Hilfe für die Bewohner und für medizinische und andere kritische Infrastruktur im Gazastreifen." Und auf seiner eigenen Webseite schreibt das Büro: "Der Umfang der Hilfe hängt unter anderem von der Fähigkeit der humanitären Organisationen im Gazastreifen ab, diese auch abzuschöpfen."

Gaza: Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung

Tatsächlich ist auch diese begrenzt. Rafah selbst ist vollkommen überfüllt. Rund 1,4 Millionen Menschen sind mittlerweile dorthin geflohen - etwa fünfmal so viele, wie dort eigentlich leben. "Dort erreichen wir die Menschen noch, da ist auch die Versorgung vor allem von Kindern und Frauen zumindest weniger katastrophal als im Norden", erklärt Martin Frick. Dorthin sind die Straßen von Süden aus teilweise zerstört oder wegen der anhaltenden Kampfhandlungen kaum noch passierbar. Auch fehle es häufig an Durchfahrtsgenehmigungen von der israelischen Armee. Eine Öffnung des Grenzübergangs in Eres könnte die Not der Menschen im Norden Gazas zumindest lindern.

Dutzende Männer drängen sich auf und um Paletten von Lebensmittelkartons
Palästinenser plündern eine LKW-Hilfslieferung nahe Rafah. Die Verteilung von Hilfsgütern endet häufig im ChaosBild: Fatima Shbair/AP Photo

Am 29. Februar waren bei einem Sturm auf einen Hilfskonvoi mindestens 112 Palästinenser ums Leben gekommen. Inwiefern dabei möglicherweise auch israelische Soldaten auf die hungernde Zivilbevölkerung geschossen haben, wird noch untersucht. Der Deutschland-Chef des WFP spricht von einem "völligen Zusammenbruch der öffentlichen Sicherheit und Ordnung" im Gazastreifen: "Auch unsere Konvois sind gestürmt und Fahrer verprügelt worden", berichtet Frick. "Wir haben Lastwagen mit Einschusslöchern zurückbekommen und Lastwagen, die auf der Fahrt geplündert wurden." All das sei "ein Ausdruck purer Verzweiflung" - und die Folge monatelanger akuter Unterversorgung. Seit Wochen häufen sich Berichte über lebensbedrohliche Mangelernährung insbesondere bei Kindern.

Hilfslieferungen zu Luft und zu Wasser?

Um den notleidenden Menschen in Gaza dennoch mehr Hilfen zukommen zu lassen, haben erst die jordanische und dann auch die US-Luftwaffe zwischenzeitlich damit begonnen, Hilfslieferungen per Flugzeug über Gaza abzuwerfen. Auch Deutschland und Frankreich beteiligen sich an den Lieferungen aus der Luft. Doch Lieferungen aus der Luft sind rund siebenmal so teuer wie Hilfen über den Landweg. Die Mengen, die durch Abwürfe zu den Menschen gebracht werden, sind wesentlich geringer, rechnet das WFP auf der Social Media-Plattform X vor. 

Zudem eignen sich nicht alle Hilfsgüter für einen Abwurf aus großer Höhe. Das gilt etwa für empfindliche medizinische Waren. Und an der Abwurfstelle drohen chaotische Szenen verzweifelter Menschen, die sich um die Güter streiten. "Abwürfe aus der Luft sind immer die schwierigste, die teuerste, und die am wenigsten präzise Art und Weise, Hilfe zu leisten", erklärt Martin Frick der DW.

Zudem treiben die USA ihre Pläne zum Ausbau  eines temporären Hafens voran - , um Hilfslieferungen in den Norden zu ermöglichen. Als Übergangslösung werden Lieferungen vor der Küste in kleinere Boote umgeladen und dann an Land gebracht. Nach dem Angriff auf den Hilfskonvoi von World Central Kitchen hatten jedoch mehrere von Zypern aus gestartete Hilfsschiffe wieder umkehren müssen, ohne ihre Fracht nach Gaza bringen zu können.

Gaza: Angriff auf NGO verschärft humanitäre Krise

Martin Frick vom UN-Welternährungsprogramm hat angesichts solcher Probleme schon seit Monaten gefordert, den Hafen von Aschdod und den Grenzübergang Eres dauerhaft für Hilfslieferungen zu öffnen -  "damit wir einfach die Logistik in einer ganz anderen Dimension leisten können als bisher."

Dieser Artikel erschien zuerst am 10. März 2024 und wurde nach der israelischen Ankündigung, weitere Kanäle für Hilfslieferungen zu öffnen, am 5. April 2024 aktualisiert.

Thomas Latschan Bonn 9558
Thomas Latschan Langjähriger Autor und Redakteur für Themen internationaler Politik