Virtuosin der Kurzgeschichte
10. Dezember 2013"Ich möchte, dass die Menschen nicht so sehr Inspiration, sondern Vergnügen finden", sagt Alice Munro in dem von der Schwedischen Akademie veröffentlichten Video. Sie sei kein politischer Mensch, sondern wolle die Menschen mit ihren Geschichten emotional bewegen. Eine traditionelle Nobelvorlesung kann sie bei der Verleihung am 10.12.2013 nicht halten – die Anreise wäre für die 82-jährige zu anstrengend.
Die Jury hatte Munro bei der Verkündung der Preisträger im Oktober als "Meisterin der zeitgenössischen Kurzgeschichte" gewürdigt. Es war eine literarische Entscheidung, keine politische: Der Preis ist eine Verneigung vor Munros Kunst, geballte Emotionen auf wenige Seiten zu packen. "Jedes Leben, jede Umgebung kann interessant sein", sagt sie in der Videobotschaft.
Bisher hat Munro 13 Bände mit Kurzgeschichten und einen Roman veröffentlicht. Viel größer wird ihr Werk wohl auch nicht mehr werden, denn die 82-Jährige hat angekündigt, keine weiteren Geschichten mehr schreiben zu wollen. Zum ersten Mal in der über 100-jährigen Geschichte des Nobelpreises geht die Auszeichnung nach Kanada - zum 13. Mal überhaupt an eine Schriftstellerin.
"Ein Leben auf einer Buchseite"
Die Auszeichnung hat die Beliebtheit der Kanadierin in Deutschland schlagartig erhört. Unmittelbar nach der Verkündung befanden sich vier ihrer Bücher in den Top Ten der meistverkauften Taschenbücher in Deutschland. Eine ihrer Verehrerinnen ist die renommierte österreichische Literaturkritikerin Sigrid Löffler - Munro war für sie die offensichtliche Kandidatin. "Ihre Kunst besteht darin, dass sie ein ganzes Menschenleben auf einer Buchseite unterbringen kann. Ihre Erzählungen, die oft nicht über mehr als 20 bis 30 Seiten verfügen, füllt sie mit mehr Leben als andere auf 700 Seiten", sagt Löffler im Gespräch mit der Deutschen Welle.
Warten auf den Roman
In Kanada und Großbritannien sind ihre Werke schon lange Bestseller. Zu schreiben begann Munro relativ spät. Sie zog erst ihre drei Kinder groß, bevor sie sich Ende der 1960er Jahre im Alter von 40 Jahren voll und ganz dem Schreiben widmete. "In ihrer Heimat war sie immer die große Heldin der kanadischen Literatur und die Rivalin von Margaret Atwood", sagt Hans-Jürgen Balmes vom Verlag S. Fischer, der Munros Bücher in Deutschland vertreibt.
Ihre Geschichten kreisen stets um ähnliche Themen. Es geht um Frauen in der kanadischen Provinz – um Mütter und Töchter –, die erwachsen werden, sich verlieben und die schönen und tragischen Seiten des Lebens kennenlernen. "Munro schreibt über ungelöste Sehnsüchte, die man sein Leben lang mit sich herumträgt, und über den Umgang damit. Es sind die kleinen Dinge, die sie groß macht", so Balmes.
Eine ihrer Kurzgeschichten handelt von einer alten Frau, die von einem Fremden Liebesbriefe erhält. Was sie nicht weiß: Es handelt sich um einen Kinderstreich. Die Frau steigt irgendwann in den Zug, um den vermeintlichen Verehrer zu treffen.
"In ihren Alltagsgeschichten seziert sie sehr genau die zwischenmenschlichen Beziehungen. Ihr Blick auf ihre Figuren bleibt aber immer liebevoll", sagt Co-Verlegerin Sabine Dörlemann, die Munro vor allem für ihre lebensnahen Themen schätzt. Außerhalb Kanadas habe Munro immer treue Verlage gehabt, sagt Balmes. Am Anfang taten sich ihre Geschichten in Deutschland aber schwer. Die Leser hätten stets auf einen kompletten Roman gewartet. Doch dann sprach sich die Virtuosität der Kurzgeschichten herum und die Auflagen stiegen kontinuierlich.
Vorbild für deutsche Autoren
Unter deutschen Autoren gilt vor allem die Berliner Schriftstellerin Judith Hermann als große Verehrerin von Alice Munro. Judith Hermanns Kurzgeschichtensammlung "Sommerhaus, später" (1998) sorgte für eine Renaissance des Genres Kurzgeschichte in Deutschland. Sie rühmt immer wieder - wie im Nachwort zu "Der Traum meiner Mutter" - die literarischen Qualitäten der Kanadierin. Für "Himmel und Hölle" lieh sie ihr ihre Stimme. Im Herbst las sie auf der Bühne Munros Kurzgeschichten vor und sorgte dafür, dass die Schriftstellerin auch hierzulande Aufmerksamkeit bekommt.
Rückzug aus der Literatur?
Schade nur, dass die Autorin bereits angekündigt hat, sich aus dem Literaturbetrieb zurückziehen zu wollen. Enttäuschten Fans riet sie, doch ihre alten Bücher zu lesen. Davon gäbe es doch schon so viele. So könnte ihr neuester Band "Dear Life" ("Liebes Leben"), der gerade ins Deutsche übersetzt wird und - passend zur Nobel-Zeremonie - am 10.12.2013 erscheint, ihr letzter sein. Allerdings hat sie in der Vergangenheit schon mehrere Male ihren Rückzug angekündigt - und das Schreiben dann doch nicht sein lassen können...