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Reaktorrisse gefährden Atomkraft weltweit

Gero Rueter20. Februar 2015

Risse in belgischen Reaktoren sorgen für Unruhe unter Experten. Ein bisher unbekanntes Phänomen der Materialermüdung scheint der Grund dafür zu sein. Die Befürchtung: Viele weitere Atomkraftwerke könnten betroffen sein.

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Atomkraftwerk Doel (Foto: dpa)
Bild: picture-alliance/dpa/Julien Warnand

In den Reaktordruckbehältern der belgischen Atomkraftwerke Doel 3 und Tihange 2 fanden Korrosionsexperten mehrere Tausend Risse. Sie könnten durch ein bisher unbekanntes Phänomen der Materialermüdung entstanden sein. Da aber im Reaktordruckbehälter die hochradioaktive Kettenreaktion stattfindet, sind dort Risse ein Sicherheitsrisiko: Der Reaktordruckbehälter steht unter hohem Druck und eine Instabilität durch Risse könnte zur Freisetzung mit katastrophaler radioaktiver Verstrahlung führen.

Untersuchung aller Atomreaktoren erforderlich

Die Folgen der entdeckten Risse in den belgischen Atomreaktoren "kann ein globales Problem für die gesamte Nuklearindustrie sein", sagte Jan Bens, Generaldirektor der belgischen Nuklearaufsichtsbehörde FANC im belgischen Fernsehen. Die Entdeckung der Materialermüdung des Metalls in der Reaktorwand hat nach Ansicht von Korrosionsexperten eine weltweite Brisanz. "Ich wäre wirklich überrascht, wenn das nirgendwo anders auch aufgetreten wäre", sagt der Spezialist für nukleare Materialkorrosion Walter Bogaerts, von der belgischen Universität Lueven. Nach seiner Ansicht werden weltweit die "Korrosionsaspekte unterschätzt".

Digby MacDonald analysierte zusammen mit Bogaerts die Risse und gibt den Betreibern von Atomreaktoren und den staatlichen Aufsichtsbehörden den Rat, weltweit alle Reaktoren mit Ultraschallgeräten auf Risse genau unter zu untersuchen. "Alle Reaktorbetreiber sollten unter der Leitung der Atomaufsicht dazu verpflichtet werden", so MacDonald. Die Ergebnisse der genauen Untersuchungen "könnten belanglos sein oder so stark, dass alle Reaktoren stillgelegt werden".

Digby D. Macdonald (Foto: Pennsylvania State University)
Prof. Digby D. MacDonald, KorrosionsexperteBild: Pennsylvania State University

Mehr Materialermüdung als bisher angenommen

Bekannt ist, dass das Metall in Reaktordruckbehältern unter dem Einfluss von Druck, Temperatur und Radioaktivität ermüdet. Im belgischen Kernforschungszentrum Mol stellte man jetzt jedoch fest, "dass das Material durch Bestrahlung doch sehr viel mehr mechanisch geschwächt wird als man bisher angenommen hat", erklärt Heinz Smital, Kernphysiker und Atomexperte von Greenpeace.

Nach Erkenntnissen der Atomexperten könnte auch Wasserstoff aus dem Reaktor in die Reaktorwand eindringen, dort im Stahl den Innendruck erhöhen und so kleine Blasen und Risse verursachen, von wenigen Millimetern Größe "bis hin zu sieben Zentimetern", so Smital.

Heinz Smital (Foto: Greenpeace)
Heinz Smital, Kernphysiker und Atomexperte von GreenpeaceBild: Axel Kirchhof/Greenpeace

In dem belgischen Reaktor Doel 3 entdeckten die Experten mit speziellen Ultraschalluntersuchungen jetzt insgesamt 13.047 Risse und 3149 Risse im Reaktor Tihange 2. Als Konsequenz stehen die Reaktoren nun still. Ob sie jemals wieder ans Netz gehen, ist ungewiss.

Gefahr für Atomindustrie

In den Rissen durch Materialermüdung steckt politische Brisanz. Sicherheitsprüfungen werden so weltweit erforderlich und es "kann zu einer ganzen Welle von Reaktorschließungen kommen", so Smital.

Greenpeace verklagte die belgische Atomaufsicht (FANC) im Januar erfolgreich auf die Herausgabe der genauen Untersuchungsdokumente. "Derzeit wird über den Umfang noch verhandelt, insgesamt schimmert durch, dass das ganze eine sehr sensible Angelegenheit ist und tatsächlich sehr große Auswirkungen auf die gesamte Atomindustrie haben kann ", so Smital. Greenpeace fordert, weltweit alle Reaktoren - spätestens bei den üblichen Revisionen - genau zu untersuchen.

Das Deutsche Umweltministerium hat inzwischen auch reagiert und will sich jetzt unverzüglich mit der belgischen Atomaufsicht in Verbindung setzen und "neue Erkenntnisse auf Übertragbarkeit prüfen", so Ministeriumssprecher Michael Schroeren.

Nach Ansicht von Greenpeace belegen die belgischen Untersuchungen auch die zunehmenden Gefahren, die von alten Atomkraftwerken ausgehen. Weltweit haben die Reaktoren ein Durchschnittsalter von inzwischen 29 Jahren. "Das ist nicht mehr Stand der Technik, das kann gefährlich sein, auch wenn man nachrüstet", so Smital. "Was man jetzt braucht sind Szenarien für die Abschaltung. Jedes Land braucht einen Ausstiegsplan."