"War Requiem": Gegen die Unmenschlichkeit
6. April 2018Zwei Seelen begegnen sich im Hades. Sie erkennen sich – denn die eine hat die andere in einem Schützengraben getötet. Nicht der Hass trieb sie an, sondern die Umstände.
So der Inhalt eines Gedichts von Wilfred Owen. In den Schützengräbern des Ersten Weltkriegs schrieb der englische Dichter seine Werke als eine Art Augenzeugenbericht. "Mein Thema ist der Krieg und das Leid des Krieges", so erklärte er seine tieftraurigen und dennoch unsentimentalen Zeilen. "Die Poesie liegt im Leid … Alles, was ein Dichter heute tun kann, ist: warnen."
Diese Worte setzte der britische Komponist Benjamin Britten als Motto vor die Partitur seines "War Requiems" Op. 66, das auch Vertonungen von Owens Gedichten enthält. In einem der Poesie-Bände unterstrich Britten eine Passage, in der es heißt: "Ich habe einen lichten Gedanken erkannt und begriffen, welcher nie in die Lehre einer etablierten Kirche einfließen wird. Er besagt, dass eine von Christus' wesentlichen Botschaften heißt: 'Passivität um jeden Preis! Du kannst entehrt werden, sollst aber nie auf Waffen zurückgreifen. Lass dich falsch behandeln, lass dich empören – aber töte nicht!'"
Owen selbst fiel 1918 in Frankreich - eine Woche, bevor die Waffen schwiegen. Er wurde nur 25 Jahre alt. Es war der sinnlose Tod eines überzeugten Pazifisten.
Der bekannteste britische Pazifist
Auch der britische Komponist Benjamin Britten war Pazifist. Er ging in die USA, als der Zweite Weltkrieg ausbrach, kehrte jedoch 1942 zurück und wurde in seiner Heimat als Kriegsdienstverweigerer aus Gewissensgründen anerkannt. Brittens Aussage vor dem Tribunal: "Da ich glaube, dass der Geist Gottes jedem Menschen innewohnt, kann ich nicht zerstören. Ich halte es auch für meine Pflicht, nicht dabei zu helfen, menschliches Leben auszulöschen."
Benjamin Britten und sein Lebensgefährte, der Tenor Peter Pears, weilten in den USA, als die deutsche Luftwaffe in der Nacht vom 14. November 1940 die Stadt Coventry angriff: Im Bombenhagel der "Operation Mondscheinsonate" wurde die Industriemetropole samt ihres Doms aus dem 14. Jahrhundert beinahe dem Erdboden gleichgemacht. Die Ruinen der Kathedrale wurden später in den Neubau einbezogen, der 1962 feierlich eingeweiht werden sollte. Bei der Frage, wer die richtige Musik für die Feier schreiben könnte, fiel die Wahl auf Benjamin Britten.
Großaufgebot der Musiker
Der Komponist schuf dann eine Totenmesse der besonderen Art. In seinem circa 90-minütigen Werk vertonte er sowohl den lateinischen Messetext als auch Worte aus Wilfred Owens Feder. "Diese herrlichen Gedichte voller Abscheu vor der Zerstörung sind eine Art Kommentar auf die Messe", schrieb Britten.
Trotz der aufwendigen Besetzung mit Großorchester, Kammerorchester, gemischtem Chor, Kammerchor, drei Vokalsolisten und Orgel wird das "War Requiem" relativ häufig aufgeführt. Es folgt dann einem ausgetüftelten Schema: Begleitet vom Kammerorchester singen zwei männlichen Solisten die vertonten englischen Gedichte Owens; eine Sopranistin trägt mit gemischtem Chor und Großorchester die lateinische Messevertonungen vor – und zwischendurch, wie aus einer fernen Welt, erhebt sich der ätherische Klang des Knabenchors mit Orgelbegleitung. Alle drei Gruppierungen werden am Schluss zu einem fulminanten Höhepunkt zusammengeführt.
Zwei Orchester, zwei Chöre, zwei Dirigenten
Bei der Uraufführung am 30. Mai 1962 mussten gleich zwei Dirigenten die Klangfülle des "War Requiems" bewältigen: Britten übernahm das Kammerorchester, der Dirigent Meredith Davies das Großorchester. "Das lag an der besonderen Raumsituation", erklärt der englische Dirigent Jeffrey Tate, "denn die verschiedenen Musiker waren physisch sehr weit auseinander." Aus der Notlösung wurde Tradition: Das Werk wird noch heute üblicherweise von zwei Dirigenten geleitet.
Als Zeichen der Versöhnung zwischen einst - oder noch - verfeindeten Ländern sollten bei der Uraufführung der englische Tenor Peter Pears, der deutsche Bariton Dietrich Fischer-Dieskau und die russische Sopranistin Galina Wischnewskaja auftreten. Doch man befand sich mitten im Kalten Krieg, und Wischnewskaja erhielt keine Ausreiseerlaubnis. Für sie sprang die Engländerin Heather Harper ein.
Keine andere Uraufführung in der Geschichte der englischen Musik hat je so viel Aufmerksamkeit erregt. Nach dem Schlussakkord war es totenstill in der Kathedrale: Es war nämlich Brittens ausdrücklicher Wunsch, dass nicht applaudiert werden sollte. Bis heute gilt das "War Requiem" als das Meisterwerk des Briten. Die Musik klingt zugleich modern und traditionell, sie ist eingängig, neu und doch irgendwie vertraut. Britten selbst sagt zu seinem Werk lediglich: "Ich hoffe, es wird die Menschen anregen, ein wenig nachzudenken." Er hatte es vier seiner Freunde gewidmet, die im Ersten Weltkrieg gefallen waren.
Eine lebensverändernde Erfahrung
Brittens "War Requiem" war - und ist - für jeden Musiker eine Herausforderung, "ein Risiko", so Dirigent Tate. "Es muss alles haargenau passen." Und Stephan Sieck, Chorleiter an der Lawrence University im US-Bundesstaat Wisconsin, ergänzt, es sei ein Stück der extremen dynamischen Kontraste, "entweder tödliches Flüstern oder sehr laut und kaum etwas dazwischen." Er beschreibt die Aufführung als eine "lebensverändernde Erfahrung" für die Musiker.
Bereits vor der Uraufführung 1962 hatte die Londoner Zeitung "The Times" die Bedeutung des Werks erkannt: "In diesem Requiem geht es nicht darum, den Lebenden Trost zu spenden. Es hilft wohl auch den Toten nicht, ruhig zu schlafen. Es kann aber jede lebende Seele aufrütteln, denn es verurteilt mit der ganzen Autorität, die nur ein großer Komponist aufbringen kann, die Barbarei, die der Menschheit innewohnt."