Gehen oder bleiben? Das Trauma der Flutopfer
6. September 2021Drei Kreuze aus Sprühfarbe, dicht nebeneinander - damit ist das Schicksal besiegelt. Häuser, die im kleinen Ort Altenburg im Ahrtal diese Markierung tragen, hat die Flutkatastrophe so nachhaltig beschädigt, dass sie abgerissen werden müssen. Mehr als zehn Häuser haben die Abrissbagger bereits dem Erdboden gleichgemacht, weitere 20 sind markiert. Das ist viel für ein Dorf, in dem vor der Flut gerade einmal 500 Menschen lebten.
Manche wollen den Abriss herauszögern. "Wer weiß, ob man hier eine neue Baugenehmigung bekommt", sagt ein Dorfbewohner. Angesichts des Klimawandels würde es vielleicht gar nicht mehr erlaubt werden, so nah am Fluss zu bauen. Hochwasser und Überschwemmungen hat es im Ahrtal immer gegeben. Aber noch nie stand das Wasser so hoch, dass nur noch die Dächer zu sehen waren.
"Unsere Nachbarn sind tot"
95 Prozent des Ortes sind stark beschädigt oder zerstört, darunter auch das Seniorenheim, die Grundschule und die Turnhalle. Schlamm und Geröll sind zwar weitgehend beiseite geräumt, aber Wasser- und Stromleitungen, die Telekommunikation - alles ist kaputt gegangen. Trinkwasser kommt jetzt aus stationären Plastiktanks. Strom gibt es in manchen Straßen wieder, er wird dringend gebraucht, um die Trockner in bereits entkernten Häusern anzutreiben.
Es ist nicht einfach, mit den Menschen ins Gespräch zu kommen. Viele sind traumatisiert von dem, was sie erlebt haben. "Unsere Nachbarn sind tot", sagt eine Frau und starrt mit leerem Blick auf die Ruine nebenan. Mehr will sie nicht sagen, schüttelt nur den gesenkten Kopf.
"Hier vor dem Haus habe ich immer mit meinem Sohn im Gras gelegen und in den Himmel geschaut", erzählt der Mann an ihrer Seite und blickt auf den braunen Erdboden. "Das war alles so schön bepflanzt und eine richtige Idylle", sagt er und zeigt auf die bewaldeten und mit Rebstöcken bepflanzten Hügel, die das Tal einrahmen. Dann drehen sich die beiden um und gehen wort- und grußlos weg.
Angst, vergessen zu werden
Eine Gruppe Altenburger, die an einer Straßenecke vor einem Trümmerfeld steht, ist gesprächiger. Die Menschen warten in der Nähe ihrer zerstörten Häuser auf Bundeskanzlerin Merkel und die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Dreyer, die sich ein Bild von den Aufräumarbeiten machen wollen. Nicht jedem ist der Besuch willkommen. Angela Merkel trete demnächst ab, die könne ihnen doch nicht mehr helfen, wird gesagt. Eine Frau sieht das anders. "Der Besuch verschafft uns Aufmerksamkeit", meint Annika Gemein. "Wir dürfen nicht vergessen werden."
Die 40-Jährige steht zusammen mit ihrer Schwester Julia vor dem, was die Flut vom Haus ihrer Mutter übrig gelassen hat. Durch eine offene Wand ist eine Badewanne zu sehen, randvoll mit Schlamm. Als das Wasser stieg, holte Annika zunächst ihre 64-jährige Mutter zu sich nach Hause. Doch auch dorthin kamen die Fluten. Die Familie rettete sich mit drei kleinen Kindern in einen Hang über dem Haus. Eine Nacht lang harrten sie dort aus, bevor ein Helikopter sie aufnehmen und ausfliegen konnte.
Versicherungsverträge sollen überprüft werden
Annika und Julia wollen die Kanzlerin ansprechen. "Wir brauchen eine Zusage, dass egal wie weit von der Ahr entfernt die Häuser stehen, wir uns hier weiter gegen Überflutungen werden versichern können." Das Versicherungsunternehmen habe ihnen gesagt, dass die Verträge zunächst weiterlaufen würden, aber nur für ein bis zwei Jahre. Dann müsse die Lage neu beurteilt werden.
"Das schwebt natürlich wie ein Damoklesschwert über uns", sagt Annika Gemein. "Wenn die Versicherung sagt, im Ahrtal bieten wir keinen Schutz mehr an, dann nützt der Wiederaufbau nichts." Selbst wenn nur der Keller oder das Erdgeschoss überschwemmt würden, sei das ein Schaden, den man nicht aus eigener Tasche bezahlen könnte.
Altenburg ist Heimat - über Jahrhunderte
Wie fast alle Altenburger möchten auch Annika und Julia in ihr Dorf zurückkehren. "Unsere Familie ist seit Generationen hier ansässig, wir sind weit verzweigt, haben Geschwister, Onkel, Tanten, Cousinen, Nichten und Neffen hier. Das ist unsere Heimat und wir würden mehr als nur den Ort verlieren, wenn wir wegziehen würden", sagt Julia. Doch einfach fällt es den Schwestern nicht, an eine gute Zukunft zu glauben. "Die Wissenschaftler sagen ja, dass das immer wieder passieren kann."
Dazu kommt, dass die Kinder große Angst haben. Vor Regen, vor Bächen, vor Flüssen. "Meine fünfjährigen Zwillinge fragen abends oft: Kommt das Hochwasser, wenn ich schlafe?", erzählt Annika, die mit ihrer Familie bei den Schwiegereltern untergekommen ist. Wie groß wird die Furcht sein, wenn sie irgendwann in ihr eigenes Haus in Altenburg zurückkehren können?
Dorthin also, wo auch die Kinder das ansteigende Wasser, die Flucht in den Hang und die Nacht mit den furchterregenden Geräuschen erlebt haben. "Am schlimmsten waren die Gas-Tanks, die zischend durch das Wasser trieben."
Nun beginnt erst die Traumabewältigung
Wie geht man mit dem um, was passiert ist und wie können die Menschen es verarbeiten? Psychologen sagen, dass in den ersten vier Wochen nach einer Katastrophe vieles verdrängt wird. Im Vordergrund stehen die Aufräumarbeiten, der Wille, so schnell wie möglich die Verwüstungen zu beseitigen.
Dann aber setze das ein, was in der Psychologie das "Tal der Tränen" genannt wird. Wenn Menschen realisieren, was sie alles verloren haben. Wenn sich der Wiederaufbau hinzieht und klar wird, wie lange es dauern wird, bis sich wieder so etwas wie Normalität einstellen kann.
"Ich ringe immer mit mir, ob ich den Kindern sagen soll, dass das nie wieder passieren wird", sagt Annika Gemein, die sich seit Wochen um einen Termin beim Kinderpsychologen bemüht. In einigen Tagen dürfen sie zum ersten Mal zum Gespräch kommen.
"Für unsere Familie ist klar, dass wir beim nächsten Hochwasser zeitig wegfahren werden und lieber zwei Nächte bei Freunden oder im Hotel übernachten", sagt sie. "Ich warte auf keinen Fall noch einmal darauf, ob bei mir Wasser ins Haus läuft. Verhindern kann ich es ohnehin nicht."
Die Kanzlerin muss ihren Zeitplan einhalten
Während des Gesprächs hat Annika immer wieder auf ihr Handy geblickt. Ihr Mann schreibt ihr, dass die Kanzlerin und die Ministerpräsidentin im Ort unterwegs seien. Tatsächlich biegt irgendwann ein Pulk von Sicherheitsleuten und Journalisten in einiger Entfernung um die Ecke.
Dort aber fahren Autos vor, die Politikerinnen steigen ein und fahren weg. Vorbei an Annika Gemein, ihrer Schwester und den anderen Altenburgern, die vor dem Trümmerfeld an der Straßenecke stehen, wo Angela Merkel und Malu Dreyer eigentlich noch vorbeilaufen wollten.
Enttäuschung ist bei den Zurückbleibenden nicht zu spüren. Eher Gleichmut. Einige drehen sich um und gehen zurück zu ihren Häusern. Weiter aufräumen, kehren, Anträge auf Hilfszahlungen ausfüllen, überlegen, wie es weitergehen soll.
Wird man am Fluss noch sicher wohnen können?
Die Schwestern erzählen, dass die Menschen jeden Tag mit den Widersprüchen zwischen ihren Emotionen und ihrem Verstand kämpfen. Werden sie in Altenburg bleiben können, oder ist das in Zukunft zu gefährlich? Eine endgültige Entscheidung haben die wenigsten bislang getroffen.
"Die jungen Familien haben hier in der Regel einen Kredit für ihren Hausbau aufgenommen und der ist noch lange nicht abgezahlt", sagt Annika Gemein. "An wen sollen wir unsere Grundstücke verkaufen, wenn man hier nicht mehr sicher wohnen kann?"
Ministerpräsidentin Malu Dreyer kennt solche Sorgen. "Überschwemmungsgebiet zu sein bedeutet nicht, dass man dort gar nicht mehr wohnen kann, sondern wir werden unterschiedliche Zonen haben, wo man ganz klar sagt: Man braucht einen anderen Hochwasserschutz", sagt die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer, nachdem sie Altenburg besucht hat. "Man muss die Häuser anders ausstatten. Man muss sie besser schützen."
Nicht mehr auf Stelzen bauen
Wie das in der Praxis aussehen kann, müssen nun Gutachter und Experten herausfinden und andere werden sich danach richten müssen. Das Haus, in dem die Schwester von Annika Gemein wohnte, wurde bei der Flutwelle mitsamt der Bodenplatte weggerissen. Es stand auf Holzstelzen. Das neue Haus, so wünscht sich Julia, soll ein festes Fundament bekommen, das standhält.
Doch die Versicherung weigert sich, das zu bezahlen, berichtet die 35-Jährige, die in ein paar Monaten ihr erstes Kind erwartet. Es werde nur ersetzt, was zerstört sei und das seien nun einmal die Stelzen. Während sie weiter erzählt, wird es irgendwann zu viel für die junge Frau. Ihr kommen die Tränen. Wie so oft in den letzten sieben Wochen.