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Glaube

Gemeinsam trauern

5. Dezember 2023

Volkstrauertag – ein ganzes Volk trauert. Was bewirkt das? Das biblische Buch Ester erzählt eine Geschichte, in der öffentliche Trauer Leben rettet und einen Genozid verhindert.

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Deutschland Allerheiligen
Bild: Gustavo Alabiso/epd-bild

Der November gilt als Trauermonat. Das oft trübe, düstere Wetter passt dazu. Im Kirchenjahr stehen in der zweiten Novemberhälfte drei melancholische, nachdenklichere Tage an: Volkstrauertag, Buß- und Bettag, Totensonntag bzw. Ewigkeitssonntag. Gerade hat der 9. November an die Verbrechen und das Leid erinnert, das die Nazis Jüdinnen und Juden vor 85 Jahren angetan haben. Das Gedenken daran scheint nötiger denn je – insbesondere, wenn manche Deutsche sich damit nicht (mehr) befassen wollen.  

Der Volkstrauertag, in diesem Jahr am 19. November, erinnert ganz offiziell an die Opfer von Gewalt und Krieg. Ich kann verstehen, wenn das für manche eine Herausforderung ist. Im Denken und Nachdenken über das, was Menschen früher getan haben und heute noch anderen Menschen zufügen, liegt etwas zutiefst Verstörendes. Warum sich mit all dem Leid befassen? Ich kenne – auch von mir selbst – den Versuch, der Trauer auszuweichen. Aber es kann Not-wendend sein, sich ihr auszusetzen. Eine Geschichte aus der Bibel bringt mich auf eine Spur: 

Sack und Asche vor dem Tor 

Mordechai sitzt in Sack und Asche – wortwörtlich. In Lumpen gekleidet und mit Asche beschmiert sitzt er vor dem Tor des Königspalastes in Susa, der persischen Hauptstadt, fastet und trauert öffentlich. Und das aus einem schrecklichen Grund: Der Perserkönig Ahasveros hat, angestachelt durch seinen intriganten Berater Haman, den Beschluss erlassen, dass in wenigen Tagen alle Juden im persischen Reich ihre Rechte verlieren und nach Belieben beraubt oder gar getötet werden können. Mordechai ist Jude. Die Lage für ihn und sein Volk scheint aussichtslos. Aber es gibt eine letzte Hoffnung.  
Mordechais Ziehtochter Ester lebt als Jüdin unerkannt im Königspalast, sie ist Teil des Harems von Ahasveros. Ester bemerkt die öffentlichen Trauerriten ihres Verwandten und erfährt so von dem Schicksal, das ihrem Volk bevorsteht. Mordechai rät ihr, sich dem König als Jüdin zu offenbaren und um Gnade zu bitten. Das ist riskant: Ohne Aufforderung darf niemand sich dem König nähern. Zudem ist völlig offen, wie dieser auf die Enthüllung reagieren wird, dass Ester Jüdin ist. 

Ester bekennt Farbe 

Ester fasst sich ein Herz und lädt den König, mit seinem Berater Haman, zu einem Abendessen ein. Ahasveros scheint zu spüren, dass Ester etwas auf dem Herzen liegt. Der König fragt sie nach ihrem Wunsch und bietet ihr das halbe Königreich. Da gesteht Ester ihre Herkunft und dass sie als Opfer von Hamans Intrige wie alle Menschen jüdischen Glaubens das Leben verlieren soll. Entrüstet distanziert sich König Ahasveros von seinem Berater und lässt diesen sogar hinrichten. Den jüdischen Bewohnern im persischen Reich gestattet er, sich gegen ihre Feinde zu wehren. So wendet sich das Blatt zum Ende der Geschichte: Aus den Verfolgten werden Gerettete. Die Intrige der Mächtigen läuft ins Leere, die vermeintlich Schutzlosen triumphieren zuletzt. In Erinnerung an den abgewendeten Völkermord feiern Jüdinnen und Juden seither das Purimfest. 

Die Geschichte in der Bibel hat teilweise märchenhafte Züge. Der für mich zentrale Punkt ist: Letztlich hängt am beherzten Auftreten Einzelner, was später einmal als überlebensgroße Geschichte überliefert wird. Es ist die große Verzweiflung Mordechais, die Ester zum Handeln bringt, gegen alle Angst und Zweifel. Und es ist Esters Mut und Ehrlichkeit, die den König zu seiner politischen Kehrtwende bewegen.  

Trauer kann verändern 

Heute haben Juden und Jüdinnen (nicht nur) in Deutschland Angst. Das Entsetzen darüber gehört in diesem Jahr zum Volkstrauertag. Trauer bewegt. Zum Mitgefühl. Zu Solidarität und Einsatz für die, die bedroht sind.  
Ich werde am Volkstrauertag auch an die vielen Menschen denken, die in diesem Jahr neu dazugekommen sind, zu der Zahl der Opfer von Gewalt und Krieg. Volkstrauertag. Ich trauere mit. Gemeinsam öffentlich trauern verändert und bewegt zum Handeln.  

Markus Witzemann 

Zum Autor:  
Markus Witzemann (Jahrgang 1977) hat Amerikanistik studiert und arbeitet als freier Journalist in Berlin. Im damaligen West-Berlin geboren, ist er seiner Heimatstadt bis auf eine kurze Zeit in Westerstede im niedersächsischen Ammerland immer treu geblieben. Er ist verheiratet mit Pastorin Nicole Witzemann und ist Mitglied einer Baptistengemeinde in Berlin-Schöneberg. 

Markus Witzemann, freier Journalist
Bild: Pressefoto der Evangelischen Kirche Deutschland

Dieser Beitrag wird redaktionell von den christlichen Kirchen verantwortet.