Besser als sein Ruf
8. Dezember 2010"Ausziehen 2.0" oder "Fremde Freunde": Mit solchen Schlagzeilen sind Titelgeschichten über die angebliche Verwahrlosung im Internet überschrieben. Die virtuelle Realität sieht aber offenbar anders aus. Diese Vermutung lässt sich aus den Ergebnissen der ersten europaweiten Studie "EU-Kids Online" ableiten, die am Dienstag (07.12.2010) auf einer internationalen Konferenz in Berlin vorgestellt wurde.
Guter Schutz in Deutschland
Es klingt banal. Je intensiver die Internet-Nutzung, desto höher das Risiko, unangenehme Erfahrungen zu machen: unerwünschte Mails mit sexuellen Angeboten oder abschätzige Kommentare in sozialen Netzwerken wie "Facebook", so genanntes Cyber-Mobbing. Während in Dänemark 26 Prozent der Jugendlichen von negativen Erlebnissen berichten, sind es in Deutschland nur acht Prozent. Der wichtigste Befund ist allerdings ein anderer, sagt Uwe Hasebrink, Direktor des Hamburger Hans-Bredow-Instituts für Medienforschung: Internet-Kontakte, vor allem in sozialen Netzwerken, sind besser als ihr Ruf. "Mehr Kinder sagen von sich, dass sie außerhalb des Internets gemobbt werden, weniger im Netz", sagt der Medienwissenschaftler.Dass heranwachsende Deutsche im europäischen Vergleich mit am besten geschützt sind, erklärt Hasebrink mit dem Schritt für Schritt verbesserten Jugendschutz. In Deutschland sei es inzwischen undenkbar, dass die wichtigsten Internet-Provider gleich auf der ersten Seite oben rechts einen Link zu den Erotik-Angeboten hätten. Das sei in Tschechien oder auch in Estland anders. Entsprechend gebe es in diesen Ländern deutlich höhere Zugriffs-Zahlen. "Der Link springt einem sofort ins Auge", hat Hasebrink festgestellt. Und dann steige die Wahrscheinlichkeit, dass die Jugendlichen gucken, was sich dahinter verberge.
"Jugendschutz.net" bleibt skeptisch
Trotz aller positiven Erkenntnisse besteht aus Sicht der 1997 von den Bundesländern gegründeten Organisation "Jugenschutz.net" kein Grund zur Entwarnung. Viele Jugendliche hätten sich an Zustände gewöhnt, die aus Sicht eines Pädagogen inakzeptabel seien, bemängelt "Jugendschutz.net"-Leiter Friedemann Schindler. Viele würden es beispielsweise als selbstverständlich akzeptieren, in einem Chat belästigt zu werden oder pornografische Fotos zugeschickt zu bekommen, weiß Schindler aus Gesprächen mit jungen Internet-Nutzern. "Das zeigt, dass da noch eine Menge zu tun ist."
Nur die Hälfte der jungen Internet-Nutzer wisse, wie man eine Profil-Seite in sozialen Netzwerken sicher konfiguriert, verweist Schindler auf ein weiteres Ergebnis der Studie "EU-Kids Online". Gefordert seien deshalb vor allem die Verantwortlichen entsprechender Netz-Angebote. Sie müssten dafür sorgen, dass ihre Dienste sicher vorkonfiguriert sind, verlangt der Leiter von "Jugendschutz.net". Nötig seien zudem Programme, in denen Jugendliche als Multiplikatoren ausgebildet werden, um die wichtigsten Sicherheitsstandards an Freunde, Bekannte und Klassenkameraden weitergeben zu können, schlägt Schindler vor.
"Wer kannte vor fünf Jahren Facebook?"
Um mehr Sicherheit im weltweiten Netz kümmert sich auch das von der Europäischen Kommission gegründete Programm "Safer Internet", das von Richard Swetenham geleitet wird. Zentralistische Regulierungen des Netzes lehnt der Brite ab. Die Verantwortlichen in den einzelnen Ländern müssten sich vielmehr darum kümmern, die Medien-Kompetenz sowohl der Eltern als auch der Kinder zu verbessern.
Was den Umgang mit dem Internet auch und gerade für Heranwachsende so faszinierend erscheinen lässt, ist das enorme Tempo, mit dem sich die virtuelle Welt entwickelt. "Wer kannte vor fünf Jahren Facebook?", fragt sich Richard Swetenham. Auf dieser in den USA gegründeten Plattform tummeln sich nach offiziellen Angaben mittlerweile 500 Millionen Menschen. Schätzungen zufolge sind auf den Nutzer-Seiten 45 Milliarden Bilder gespeichert. National ausgerichtete soziale Netzwerke wie "Schüler VZ" in Deutschland werden es zunehmend schwerer haben, vermutet Uwe Hasebrink vom Hamburger Hans- Bredow-Institut.
Marktorientiertes Star-System verinnerlicht
Der Medienwissenschaftler Klaus Neumann-Braun von der Universität Basel beurteilt den Trend zur Vereinheitlichung mit einer gewissen Skepsis. Die meisten jungen Nutzer orientierten sich an Vorbildern aus der Musik- und Filmbranche oder aus dem Sport, sagt er. Sie würden Star-Bilder auf ihre Profil-Seite stellen. Hinzu kämen private Fotos. Mitunter kopierten sie dann ihre Idole, indem sie deren Mimik und Gestik nachahmten, beschreibt Neumann-Braun eine Beobachtung aus der Internet-Ästhetik. "Und dann hat man ein Stück weit das Fremdbild eines solchen marktorientierten Star-Systems verinnerlicht", meint der Medien-Wissenschaftler. Klaus Neumann-Braun nennt das den "Glamour"-Faktor des Internets. Man lebe gewissermaßen mit dem Star.
Diese Form der Identifikation hat indes ein eher geringes Risiko-Potenzial für Kinder und Jugendliche. Gefährlich kann es erst werden, wenn sich andere Nutzer darüber lustig machen. Dann wäre wieder schnell von Mobbing im Internet die Rede. Doch diese Erfahrungen machen Heranwachsende quer durch Europa eher offline.
Für die Studie wurden über 23.000 Kinder und Jugendliche im Alter von neun bis 16 Jahren aus 25 Ländern zu ihren Internet-Erfahrungen befragt. Das Treffen in Berlin wurde von der Landeszentrale für Medien und Kommunikation Rheinland-Pfalz, dem Hans-Bredow-Institut für Medienforschung der Universität Hamburg und dem Verbund des Safer Internet-Programms der Europäischen Union veranstaltet.
Autor: Marcel Fürstenau
Redaktion: Julia Kuckelkorn