Gerhard Richter: als Künstler gefeiert und begehrt
9. Februar 2022Gerhard Richter könnte unerkannt durch seine Wahlheimat Köln spazieren. So unscheinbar und bescheiden wirkt der eher kleine, vollbärtige Mann mit seiner runden Brille. Was aber auffällt sind seine rastlos umherschweifenden Augen und sein prüfender Blick.
Als "Picasso des 21. Jahrhunderts" bezeichnen ihn Kunstkritiker. Tatsächlich ist der Deutsche einer der erfolgreichsten Künstler der Gegenwart. Seine Werke hängen in den bedeutendsten Museen der Welt. Arbeiten mit seiner Signatur erzielen Rekordsummen am Kunstmarkt. Die Welt überschüttete ihn mit Kunstpreisen.
Kein Künstler zum Anfassen
Doch mit Picasso, dem Wegbereiter der modernen Kunst im 20. Jahrhundert, teilt Richter kaum mehr als den Ruhm. Zwar liebt auch Richter die Frauen und war dreimal verheiratet. Doch anders als der illustre Spanier scheut Richter das Licht der Öffentlichkeit. Er gibt kaum Interviews und macht sich rar auf den Tummelplätzen der glamourösen Kunstwelt. "Die ganze Kunstszene ist ein riesiges Theater der Armseligkeit, der Lüge, des Betrugs, der Verkommenheit, Elend, Dummheit, Unsinn, Frechheit", sagte Richter einmal in einem Interview mit der Wochenzeitung "Die Zeit".
Im Unterschied zu Picasso machte Richter auch nicht die eigene Biografie zum Maß seiner Kunst. Ganz im Gegenteil, wie Richter-Biograf Dietmar Elger im DW-Interview betont: "Gerhard Richter hat sein Privatleben, wo er es gemalt hat, immer geleugnet." Doch etwas hat Richter doch mit Picasso gemein: Stilistisch entwickelte er sich stets weiter. Das galt bereits für seine frühen Pop-Art-Bilder und ersten Gehversuche im abstrakten Expressionismus Anfang der 1960er-Jahre, die er zum "Kapitalistischen Realismus" erklärte.
Flucht aus der DDR
So nannte Richter seine ironische und konsumkritische Antwort auf die offizielle Kunstdoktrin der damaligen DDR, den "Sozialistischen Realismus". Seine ostdeutsche Heimat verließ der gebürtige Dresdner 1961 in Richtung Westdeutschland.
Bald darauf begann Richter mit seinem "Atlas", in dem er Zeitungsausschnitte, Fotografien, Entwürfe, Farbstudien, Landschaften, Porträts, Stillleben, historische Stoffe und Collagen versammelte. Eine Art Motivarchiv, das 1997 auf der Kunstschau Documenta X in Kassel ausgestellt wurde und dessen er sich über Jahrzehnte immer wieder bediente.
Stilbruch als Markenzeichen
Er malte Landschaften in der Tradition der Romantik, Wolkenbilder und Seestücke. Es entstanden Stillleben und Porträts. Richter trug die gegenständliche Malerei in die Zeit der Fotografie. Und erfand sich dabei immer wieder neu - mal mit fotorealistischen Naturdarstellungen oder unscharfen Gemälden, mal mit Glas- und Spiegelobjekten, Installationen und Übermalungen oder auch mit späten, wandfüllenden Farborgien. Permanenter Stilbruch wurde zum Markenzeichen seiner Kunst. "Ich verfolge keine Absichten, kein System, keine Richtung", formulierte Richter 1966 sein künstlerisches Konzept: "Ich habe kein Programm, keinen Stil, kein Anliegen."
Das zu glauben fällt schwer. Kaum jemand hat die Möglichkeiten von Malerei so genau ausgelotet wie Gerhard Richter. Ihm gelingt schließlich, woran die Kunstwelt am Ende nicht mehr geglaubt hat: "Richter rettete die Malerei ins 21. Jahrhundert", sagt Richter-Biograph Dietmar Elger im DW-Gespräch. Elger leitet das Gerhard-Richter-Archiv der Staatlichen Kunstsammlungenin Dresden.
Richter: "Es ist fast alles Zufall"
In der sächsischen Landeshauptstadt kommt Richter am 9. Februar 1932 zur Welt - als Sohn einer Buchhändlerin und eines Realschullehrers. Er besucht die höhere Handelsschule, absolviert einen Abendkurs in Malerei, anschließend eine Ausbildung zum Schriftenmaler in Zittau. Am dortigen Stadttheater hilft er als Bühnenmaler aus.
Als er beschließt, die Laufbahn eines professionellen Künstlers einzuschlagen, ist die 1949 gegründete DDR gerade zwei Jahre alt. Richters erster Bewerbungsversuch an der Hochschule für Bildende Künste scheitert. Er muss sich zuerst als Betriebsmaler bei der SED-eigenen DEWAG, einem Monopolbetrieb für Werbung in der DDR, bewähren, bevor er das Studium in Dresden antreten darf. "Prägende Jahre" seien das für ihn gewesen, hält Richter rückblickend auf seiner Website fest: "Aber die große Tradition der deutschen Malerei, die wurde mir doch nur sehr gebrochen vermittelt, einmal durch die ideologisierende Betrachtung von Kunst, die uns gelehrt wurde, und zum anderen durch die aktuellen Auffassungen von moderner Kunst, die uns mehr oder weniger deformiert aus dem Westen erreichten." Sein Studium beschließt Richter 1956 mit einer Wandmalerei im Deutschen Hygienemuseum in Dresden. Sie wurde übermalt.
Gerhard Richter verlässt die DDR im Jahr des Mauerbaus 1961 in Richtung Düsseldorf, wo er sich bei dem Informel-Maler Karl-Otto Götz an der Staatlichen Kunstakademie einschreibt. Keine zehn Jahre später wird er dort selbst zum Professor ernannt. Richter zieht nach Köln um. In den Folgejahren wird er mit zahlreichen Preisen bedacht, darunter dem Kaiserring in Goslar (1988) und dem Goldenen Löwen der Biennale von Venedig (1997). Das Moma in New York würdigt ihn 2002 mit einer umfassenden Retrospektive: "Forty Years of Painting". Die "New York Times" nennt die Schau "längst überfällig".
Künstlerisches Erbe umworben
Richters Werke entwickeln sich zu Spekulationsobjekten, die auf Auktionen regelmäßig Höchstpreise erzielen. Im Ranking des Kunstkompass rangiert Richter seit bald 20 Jahren unangefochten als teuerster Maler an der Spitze. Dem Künstler ist sein materieller Erfolg längst nicht mehr geheuer: "Da besteht doch ein völliges Missverhältnis zwischen dem Wert und der Relevanz von Kunst und diesen wahnwitzigen Preisen, die dafür gezahlt werden", wettert er 2005 im Magazin "Der Spiegel". Das "Manager-Magazin" schätzt Richters Vermögen 2019 auf 700 Millionen Euro. Er liegt damit auf Platz 230 der "1001 reichsten Deutschen".
Als der Regisseur Florian Henckel von Donnersmarck sich 2018 bei seinem Film "Werk ohne Autor" an der Vita Richters anlehnt, distanziert sich der Künstler von der Produktion: Das Leinwanddrama missbrauche seine Biografie, so Richter. Zum Kassenschlager entwickelt sich der Film trotzdem, zumindest in Deutschland. In Hollywood bleibt der erhoffte Oscar aus.
"Ich bin fasziniert vom Zufall", räumte Gerhard Richter einmal ein. "Es ist fast alles Zufall: Wie wir beschaffen sind, warum ich nicht in Afrika geboren bin, sondern hier - alles Zufall", so Richter in einem Video-Gespräch mit dem Kurator des dänischen Louisiana Museum of Modern Art. Einem Computer überließ er denn auch 2007 die Gestaltung seines berühmten und vieldiskutierten Fensters im Kölner Dom: Mehr als 11.000 farbige Quadrate formten das Motiv.
Es ist so facettenreich und undurchschaubar wie das Gesamtwerk seines Künstlers. Auf dessen Erbe hat längst ein Run eingesetzt. Dresden bemüht sich darum, Köln ebenso. Beste Karten hat allerdings die Alte Nationalgalerie in Berlin. Ihr hat Richter 2021 schon einmal rund 100 Werke als Dauerleihgabe überlassen, darunter seinen vierteiligen Birkenau-Zyklus, der nach Fotografien eines jüdischen Häftlings im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau entstand.
Anlässlich seines 90. Geburtstags am 9. Februar 2022 zeigt die Kunstbibliothek in der Neuen Nationalgalerie erstmals die Künstlerbücher Gerhard Richters in einer großen Überblicksausstellung. Auch wenn sein unscheinbares Äußeres keinen Star vermuten lässt - der aus Ostdeutschland stammende und in Westdeutschland gereifte Künstler Gerhard Richter ist zum gesamtdeutschen Künstler mit Weltruhm geworden.