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Deutsche Normalität auf Instagram

Helena Kaschel12. Dezember 2015

Spelunken und Schrebergärten im Netz: Unter Hashtags wie #germangemütlichkeit erzählen Instagramnutzer Geschichten über Deutschland abseits der Touristen-Hotspots - und werden so zu digitalen Kulturdolmetschern.

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Bild: Anika Meier

Ein vernachlässigter Gartenzwerg, ein Balkon mit 70er-Jahre-Sonnenschutz, ein Plattenbau im Herbst, eine verrutschte Spitzengardine: Wenn Anika Meier unterwegs ist, fängt ihre Handykamera Alltagsjuwelen ein, "Risse in der heilen Welt". Beruflich ist Meier freie Journalistin und Kunsthistorikerin, auf Instagram fotografiert sie als @gert_pauly.

Besonders hat es ihr eine typisch deutsche Idee angetan: Gemütlichkeit. Damit ist sie nicht alleine: Anika Meier hat das Hashtag #germangemütlichkeit ins Leben gerufen. Wenn man es auf Instagram eingibt, erhält man fast 5000 Suchergebnisse - ein selbstironisches Bilderbuch deutscher Lebensart.

Mit Fotos gegen Klischees

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Perfekt unperfekt: Gemütlichkeit ist für Anika Meier nicht unbedingt Kitsch. "Mich zieht die Unstimmigkeit im Bild an"Bild: Anika Meier

Mit bekannten Fotomotiven aus Deutschland hat #germangemütlichkeit wenig zu tun. "Viele Leute merken schnell, dass Kitsch auf Instagram gut ankommt. Es sieht ja auch toll aus, wenn die Alster in schönes Licht getaucht ist. Dafür bekommt man natürlich mehr Likes als für ein tristes Reihenhaus. Deshalb ist #germangemütlichkeit auch ironisch zu verstehen", sagt Anika Meier.

"Wenn man die Beiträge durchsieht, dann findet man kaum Fachwerkhäuser oder hübsche Gässchen. Es geht darum, zu zeigen, wie Leute etwas verschönern wollen, was eigentlich nicht schön ist" - zum Beispiel ein baufälliges Haus oder eine sterile Fassade.

Screenshot Instagram gert_pauly
Auch das ist Deutschland: eine verschlafene Wohnsiedlung im badenwürrtembergischen Bad SchönbornBild: Instagram/gert_pauly

"Ich denke, dass man eine Kultur kaum verstehen kann, wenn man ständig nur Orte zu sehen bekommt, die in jedem Reiseführer gelistet sind", sagt Christina Vetesnik, die auf Instagram @stina_valensina heißt. Ihr sei es wichtig, Facetten von Deutschland zu zeigen, die ihre Follower sonst nicht sehen, der Normalität das Besondere zu entlocken. Unter #germangemütlichkeit postet sie Fotos, die kleine Geschichten aus dem deutschen Alltag erzählen und sie an vertraute Situationen aus dem eigenen Leben erinnern, "zum Beispiel die frisch gewaschene Wäsche meiner Oma oder der Kaufladen von früher."

Das kommt an. Mehr als 65.000 Nutzer folgen Christina Vetesnik und Anika Meier zusammen auf Instagram - viele davon aus dem Ausland. Das spielte auch bei der Suche nach einem passenden Hashtag eine Rolle, sagt Meier. "Gemütlichkeit" sei eines der wenigen deutschen Wörter, das auch im Englischen und Französischen verstanden wird.

Screenshot Instagram stina_valensina
"Deutsche Lebensart passiert für mich jenseits touristischer Anziehungspunkte", sagt Imstagramerin Christina VetesnikBild: Instagram/stina_valensina

Mit Fotos von deutscher Normalität rebelliert #germangemütlichkeit gegen die in dem sozialen Netzwerk immer wieder reproduzierte Bildsprache. Mehr als Berliner Szene-Viertel interessiert Anika Meier der "Charme von Kleinstädten, von Dörfern in der süddeutschen Provinz oder Tristesse, wie man sie häufig in Städten im Ruhrgebiet findet". Inspiration findet sie bei dem US-Fotografen Stephen Shore und dem Düsseldorfer Künstlerpaar Bernd und Hilla Becher.

Spießigkeit und Schäbigkeit statt Schloss Neuschwanstein und Brandenburger Tor

Auch André Krüger fotografiert am liebsten Dinge, die den gängigen Klischees über Deutschland widersprechen. "Es ist hier nicht alles immer sauber und pünktlich und ordentlich. Wenn man genauer hinguckt, ist vieles auch ein bisschen schäbig und schief," sagt der Hamburger Blogger, auf Instagram als @bosch bekannt. Unter dem Hashtag #uglygermanarchitecture sammeln er und andere Nutzer fotografische Liebeserklärungen an die Hässlichkeit deutscher Gebäudefassaden.

Screenshot Instagram bosch
Ode an die Hässlichkeit: Über 3600 Beiträge findet man unter dem Instagram-Hashtag #uglygermanarchitectureBild: Instagram/bosch

Vor allem die Architektur der Nachkriegszeit stehe "im Kontrast zu den ganzen Instagram-Bildern, die einem jeden Tag ins Gesicht springen, wo alles schön und hell ist. Aber der Alltag ist eben auch grau und trist. Das finde ich zeigenswert." In Berlin fährt André Krüger deshalb eher nicht ans Brandenburger Tor, sondern nach Marzahn oder in die Hufeisensiedlung.

Gemütlichkeit - ein deutscher Exportschlager

Screenshot Instagram lacaroline
Voneinander lernen: Weihnachten in Deutschland - das ist nicht nur der Christkindlmarkt, sondern auch ImprovisationBild: Instagram/lacaroline

Ein Hashtag verfolgt Anika Meier in diesen Tagen mit besonderem Interesse: #xmasgemütlichkeit, eine Aktion des Instagram-Projekt "This Aint Art School", das sie gegründet hat. Der Account will Nutzer motivieren, Dinge zu fotografieren, die sonst eher nicht in dem sozialen Netzwerk zu sehen sind, und vergibt regelmäßig "Hausaufgaben" – kleine Kreativitätswettbewerbe zu vorgegebenen Themen.

Screenshot Instagram hypercatalecta
American Gemütlichkeit: In den Vereinigten Staaten steht aufblasbare Weihnachtsdekoration hoch im KursBild: Instagram/hypercatalecta

Am Anfang hätte vor allem die deutsche Instagramszene unter dem Hashtag die Vorweihnachtszeit gefeiert – ebenfalls mit einer Portion Selbstironie. In den letzten Tagen seien aber auch Beiträge aus Mexiko, den USA und sogar Bethlehem eingetroffen. Was banal klingt, findet Anika Meier faszinierend: "Man zeigt sich: So sieht es bei mir aus." Inzwischen gibt es auch Hashtags wie #americangemütlichkeit und #frenchgemütlichkeit. Der Siegeszug der Normalität auf Instagram hat begonnen.