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Weltkindertag: Wie die Kindheit geboren wurde

Christine Lehnen
1. Juni 2022

Seit wann dürfen Kinder eigentlich Kinder sein? Die Meinungen dazu haben sich im Lauf der Jahrhunderte stark gewandelt. Wir geben einen Überblick.

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Drei Kinder in Röcken spielen mit Reifen auf einer sandigen Straße in Bevato (Madagaskar)
Spielende Kinder in Bevato (Madagaskar)Bild: Florian Kopp/imageBROKER/picture alliance

Die Kindheit, so Pierre de Bérulle, "ist der widerlichste und jämmerlichste Zustand der menschlichen Natur, überboten nur von dem des Todes." Das schrieb der französische Kleriker noch im 17. Jahrhundert. Dass man heutzutage den Weltkindertag feiert, ist keine Selbstverständlichkeit, sondern das Ergebnis eines langen historischen Prozesses: Die Kindheit musste gewissermaßen erst erfunden werden. Und das geschah in allen Teilen der Welt auf verschiedene Weise mit unterschiedlichen Ergebnissen zu verschiedenen Zeiten.

In Europa verstand man das Kind im 16. Jahrhundert noch als Wesen, das durch den Erwachsenen erlöst werden muss, so wie Jesus Christus in der christlichen-religiösen Vorstellung alle Christen erlöste. Von der Antike bis ins 18. Jahrhundert wurde das Kind im Prinzip als fehlerhafter Erwachsener gesehen, schreibt Colin Heywood, emeritierter Professor an der University of Nottingham in seinem Grundlagenwerk "The History of Childhood" (deutsch: "Die Geschichte der Kindheit").

Erst mit der Romantik im 19. Jahrhundert wandelte sich das Bild von der Kindheit: Die Dichter und Denker dieser Epoche, die als Gegenbewegung zu den rationalen Idealen der Aufklärung entstand, idealisierten das Kind als unschuldig, da es der Natur noch sehr viel näher stehe als die Erwachsenen. Die Natur war für die Vertreter der Romantik ein Sehnsuchtsort, an dem sie sich zurückziehen konnten und mir der sie im Einklang sein wollten. 

Dadurch wandelte sich auch der Blick auf die Kindheit: Kinder sollten behütet und beschützt aufwachsen. Im 19. Jahrhundert wurde diese Sicht auf Kinder im viktorianischen England noch weiter verklärt: Kinder galten als kleine Engel und durften auch nichts Anderes sein, so Heywood. Eine eigene Meinung haben, widersprechen, sich politisch einbringen - das stand Kindern in dieser Epoche nicht zu. Allerdings ebenso wenig wie das Recht auf körperliche Unversertheit. Noch weit ins 20. Jahrhundert hinein stand es in Europa nicht unter Strafe, die eigenen Kindern zu schlagen.

Geburt der Kinderrechtsbewegung

Erst in den 1980er-Jahren kamen in Europa und Nordamerika mit dem sogenannten "Agency Approach" verstärkt Ansätze auf, die das Kind als handelnde Person bergreifen. Kinder werden hier als Menschen mit eigenen Interessen und Sichtweisen betrachtet, die sich zwar von denen Erwachsener unterscheiden, ihnen aber dennoch ebenbürtig sind.

Aus diesem Ansatz entstand unter anderem auch die Kinderrechtsbewegung: Seit dem Jahr 1992 gilt die Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen, die die besondere Schutzbedürftigkeit von Kindern sowie ihr Recht auf eine freie Entwicklung zu einem selbstständigen Menschen festschreibt.

Schülerinnen halten maskentragend ein Banner, auf dem "für's Klima" steht
In der "Fridays for Future"-Bewegung, hier in Hannover, engagieren sich überwiegend Jugendliche und KinderBild: localpic/IMAGO

Der "Agency Approach" wurde durch die Fridays-for-Future-Bewegung, in der sich hauptsächlich Menschen im Schulalter für das Klima engagieren, in den vergangenen Jahren noch populärer. Greta Thunberg, die die globale Protestbewegung begründete, war zu Beginn der Demonstrationen im Jahr 2018 gerade einmal 15 Jahre alt. Sie ist die Ikone einer weltweite Bewegung vieler junger Menschen, die sich für das Klima und ein wissenschaftsbasiertes, ökologisches Handeln in der Politik einsetzen. 

In Deutschland wird dem zunehmend Rechnung getragen: Bereits im Januar 2021 gab es Bestrebungen seitens des Bundeskabinetts, das Grundgesetz zu ändern, um die Kinderrechte auch in der Verfassung zu stärken: "Die verfassungsmäßigen Rechte der Kinder einschließlich ihres Rechts auf Entwicklung zu eigenverantwortlichen Persönlichkeiten sind zu achten und zu schützen. Das Wohl des Kindes ist angemessen zu berücksichtigen. Der verfassungsrechtliche Anspruch von Kindern auf rechtliches Gehör ist zu wahren. Die Erstverantwortung der Eltern bleibt unberührt."

Als es zur Abstimmung über Das Gesetz kam, fehlten aber Stimmen aus anderen Parteien, um die nötige Zweidrittel-Mehrheit zu erreichen, die für eine Änderungen der Grundgesetzes nötig ist. Nun hat die neue Bundesregierung aus SPD, FPD und Grünen im Koalitionsvertrag festgeschrieben, einen neuen Anlauf zu unternehmen. 

Zwei Weltkindertage - und viele Kindheiten weltweit

Wie wichtig es sei, Kinderrechte zu stärken, beschreiben Claudia Kittel und Sophie Funke vom Deutschen Institut für Menschenrechte e.V. in einem Artikel für die Bundeszentrale für Politische Bildung. Darin heißt es unter anderem, dass Kinder immer noch unterschätzt würden: "Ihnen wird zudem oftmals die Fähigkeit abgesprochen, ihre Rechte selbst wahrzunehmen, da sie die Folgen der damit verbundenen Entscheidungen nicht überschauen könnten." Außerdem würden die "Grundrechte von Kindern und Jugendlichen bei vielen wichtigen Entscheidungen von Politik, Verwaltung und Justiz immer noch nicht hinreichend beachtet."

Malala Yousafzai
Friedensnobelpreisträgerin Malala Yousafzai setzt sich seit Kindheitstagen für das Recht von Mädchen auf Bildung einBild: Rodrigo Reyes Marin/ZUMA/imago images

Passend dazu hat UNICEF Deutschland das Motto des diesjährigen Weltkindertags ausgewählt: "Gemeinsam für Kinderrechte". Dazu veröffentlichte das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen folgenden Appell auf seiner Internetseite: "Zusammen mit dem Deutschen Kinderhilfswerk rufen wir alle Verantwortlichen - von den Eltern über die Schulen, die Politik und Verwaltung bis zu den Unternehmen - dazu auf, sich gemeinsam mit Kindern und Jugendlichen noch stärker für die Verwirklichung ihrer Rechte einzusetzen."

UNICEF plant dazu mehrere Aktionen - allerdings erst im November. Denn der Weltkindertag wird in verschiedenen Ländern zu verschiedenen Daten begangen, genauso wie es auch heute noch in verschiedenen Weltregionen ganz unterschiedliche Vorstellungen von Kindheiten und Kindern gibt. 

Die Vereinten Nationen begehen den Internationalen Tag der Kinderrechte am 20. November, also dem Tag, an dem 1989 die UN-Kinderrechtskonvention beschlossen wurde. China, Russland und mehrere osteuropäische Länder feiern am 1. Juni Kindertag. Auch in der DDR wurde der Kindertag traditionell am 1. Juni gefeiert. Doch reichen zwei Tage aus? Die Geschichte zeigt, es wurde schon viel erreicht, aber es gibt auch noch viel zu tun.