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Gewalt gegen deutsche Politiker nimmt zu

8. Mai 2024

Berlins Wirtschaftssenatorin Franziska Giffey wird bei einem Termin attackiert. Der Europawahlkampf in Deutschland wird überschattet von Angriffen auf Politiker. Einen davon erlebte ein Fernseh-Team der DW mit.

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Eine Menschenmenge mit Transparenten - auf einem Plakat steht "Hass ist keine Meinung".
Demonstration in Berlin nach dem Angriff auf den SPD-Politiker Matthias Ecke in DresdenBild: Liesa Johannssen/REUTERS

Die gute Nachricht zuerst: Nach dem Angriff auf Berlins Wirtschaftssenatorin Franziska Giffey ist die SPD-Politikerin eigenen Angaben zufolge wieder wohlauf. "Nach dem ersten Schreck kann ich sagen, es geht mir gut", erklärte Giffey am Mittwoch.

Ein Mann hatte die frühere Regierende Bürgermeisterin von Berlin und ehemalige Bundesfamilienministerin am Dienstagnachmittag laut Polizei bei einem Termin in einer Bibliothek in Berlin von hinten mit einem harten Gegenstand attackiert. Dabei wurde sie am Kopf und am Nacken getroffen und begab sich zur ambulanten Behandlung in ein Krankenhaus. Wie die Berliner Staatsanwaltschaft am Mittwoch mitteilte, wurde der mutmaßliche Täter inzwischen identifiziert, nachdem er zuvor unerkannt entkommen konnte.

Die Berliner Wirtschaftssenatorin Franziska Giffey spricht bei der Pressekonferenz
Wurde von einem Unbekannten angegriffen: die Berliner Wirtschaftssenatorin Franziska GiffeyBild: Britta Pedersen/dpa/picture alliance

Der Angriff erfolgte nur wenige Tage nach dem brutalen Überfall auf den SPD-Politiker Matthias Ecke in Dresden. Der 41-jährige tritt in Sachsen als Spitzenkandidat seiner Partei für die EU-Parlamentswahlen vom 6. bis 9. Juni an. Am vergangenen Freitagabend (3. Mai) war er beim Aufhängen von Wahlplakaten niedergeschlagen und schwer verletzt worden. Er wurde mit einem Bruch des Jochbeins und der Augenhöhle ins Krankenhaus eingeliefert. Trotz des Vorfalls werde Ecke den Wahlkampf fortsetzen, sobald er sich von der Operation erholt habe, so der SPD-Landesverband Sachsen.

Alle vier Tatverdächtigen, junge Deutsche im Alter von 17 bis 18 Jahren, konnten von der Polizei identifiziert werden. Bei mindestens einem von ihnen hat die Polizei Hinweise auf eine rechtsextreme Gesinnung entdeckt.

Ebenfalls in Dresden wurde am Dienstag ein Wahlkampfteam der Grünen beim Aufhängen von Wahlplakaten beleidigt, bedroht und bespuckt. Die Wahlhelfer waren in Begleitung eines Fernsehteams der Deutschen Welle sowie weiterer Journalisten unterwegs, die Zeugen des Vorfalls am helllichten Tag wurden.

Eine Redakteurin der Deutschen Welle, die dabei war, schildert den Zwischenfall so: "Wir haben unterwegs schon Rufe gehört, wie "Heil Hitler“ und "Nur die AfD“. Aber der Angriff kam plötzlich. Erst wurde das Wahlplakat runtergerissen. Dann wurde eine Grünen-Politikerin bedroht und eingeschüchtert. Man hat ihr direkt ins Gesicht gespukt und sie dann dazu gebracht, Beweisfotos von dem zerstörten Plakat auf ihrem Handy zu löschen. Dabei wurde sie immer wieder beleidigt. Ich und einige andere haben versucht, die Polizei anzurufen, landeten aber alle erstmal einige Minuten in der Warteschleife. Das hat Angst gemacht. Als die ersten Polizisten dann kamen, war es natürlich eine große Erleichterung. Gleichzeitig hat man sich gefragt: Warum wart ihr nicht schon früher da, weil die nächste Polizeistation nur drei Minuten entfernt ist."

Die Vorfälle zeigen: Wer sich in Deutschland politisch engagiert, lebt zunehmend gefährlich. Der Angriff auf Ecke ist nur die Spitze des Eisbergs, Tag für Tag werden vor allem Lokalpolitiker massiv angegangen, bedroht und beschimpft.

So wie Max Reschke, seit einem Jahr Parteichef der Grünen in Thüringen. Er sagt gegenüber der DW: "Ab Weihnachten bis Anfang des Jahres, zu Zeiten der Bauernproteste, hatten wir zeitweilig an jedem Büro entweder einen Misthaufen vor der Tür, Eier an den Scheiben, eingeschmissene Scheiben an mehreren Büros und auch aufgesprengte Briefkästen. Es kommt vor, dass Menschen einem sagen, wenn wir wieder an der Macht sind, dann passiert dieses und jenes mit Euch. Die Gewalt in der Sprache ist auf jeden Fall in den letzten Jahren gestiegen."

Mann mit Schnurrbart und blauem Hemd schaut in die Kamera
"Die Leute, die in rechten Strukturen unterwegs sind, sind mit einer ziemlichen Motivation unterwegs" - Max ReschkeBild: Paul-Philipp Braun

Zur Sicherheit nicht mehr allein im Wahlkampf unterwegs

Vor allem die Grünen werden häufig angegriffen, Reschke und sein Team mussten längst reagieren. Im Wahlkampf für die Kommunalwahlen Ende Mai und die Europawahlen Anfang Juni sind sie für ihre eigene Sicherheit immer mindestens zu zweit unterwegs. In Schulungen werden die grünen Wahlkämpfer trainiert, ruhig mit den Menschen zu sprechen, zu deeskalieren und sich nicht provozieren zu lassen.

"Es gibt Menschen, die früher Sachen gedacht haben, und diese jetzt sagen, wenn sie zu uns kommen. Es wird auch gerne versucht, die Familien einzuschüchtern. Und es gibt andere, die sorgen dafür, dass solche Gedanken auch in Handlungen umgesetzt werden. Das hat man leider jetzt in Dresden gesehen", sagt Reschke.

"Es darf nicht sein, dass erst etwas passieren muss"

Und nicht nur dort: In Essen in Nordrhein-Westfalen wurden am 2. Mai zwei Grünen-Politiker erst beleidigt und dann attackiert, einer von ihnen verletzt. In Brandenburg schlugen am selben Tag aufgebrachte Demonstranten auf das Auto der grünen Bundestagsvizepräsidentin Katrin Göring-Eckart ein und hinderten diese an der Weiterfahrt.

Und in Gotha in Thüringen zündeten im Februar Unbekannte das Haus eines SPD-Politikers an, der eine Demonstration gegen Rechtsextremismus organisiert hatte.

Gewalt gegen Politiker ist keine neue Erscheinung: So wurde die Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker 2015 Opfer eines Attentates, welches sie knapp überlebte. 2019 war der hessische Regierungspräsident und CDU-Politiker Walter Lübcke von einem Rechtsextremisten ermordet worden. 

Der bayerische Ministerpräsident Markus Söder macht die in Teilen rechtsextreme AfD für die jüngste Gewalt gegen Politiker verantwortlich. Aber auch deren Politiker werden Opfer von Attacken.

Max Reschke will weitermachen, fordert aber, dass Lokalpolitiker vom Staat und von der Polizei mehr Sicherheit bekommen müssten. "Das ist in letzter Zeit einfach viel zu wenig gewesen. Es darf nicht sein, dass erst etwas passieren muss, damit man aktiv wird. Und die gesamte Gesellschaft muss sich die Frage stellen, in welche Richtung wir gehen wollen. Ich glaube nicht, dass mehr Gewalt und mehr Angst da sinnvoll sein kann."

Hass auf den Staat

Eine aktuelle repräsentative Umfrage des Meinungsforschungsinstitutes Forsa im Auftrag der Körber-Stiftung bei den mehr als 6.400 Bürgermeisterinnen und Bürgermeistern in Deutschland kommt zu einem ähnlich besorgniserregenden Ergebnis: 40 Prozent der Befragten gaben an, dass sie oder Personen aus ihrem Umfeld schon einmal wegen ihrer Tätigkeit beleidigt, bedroht oder tätlich angegriffen wurden.

Mann mit Brille und Bart schaut in die Kamera
"Die Demokratie ist in beiden Richtungen gefährdet, wenn wir das alles so akzeptieren und zulassen" - Sven TetzlaffBild: privat

Einige unter ihnen spielten deswegen auch mit dem Gedanken, die Lokalpolitik an den Nagel zu hängen. Dies sei aber kein rein deutsches Phänomen, sondern ein Trend in ganz Europa und auch den USA, sagt Sven Tetzlaff, Leiter vom Bereich Demokratie und Zusammenhalt bei der Körber Stiftung gegenüber der DW.

Die Ursachen: "Die Sprache ist roher geworden, und es hat natürlich etwas mit den sozialen Medien zu tun. Da pushen sich die Leute gegenseitig hoch in ihrem Hass auf den Staat, auf das System, auf die Politik, auf 'die da oben'. Und wir wissen auch, dass die Hemmschwellen, dann auch physisch anzugreifen, deutlich sinken, wenn sich die Sprache immer weiter in diese Richtung entwickelt."

Am Ende auch Demokratie unter Beschuss

Ein zweiter Punkt ist nach Einschätzung von Tetzlaff, das Phänomen, dass immer mehr Menschen auf ihre eigenen Interessen pochten. Sie wähnten sich im Recht darauf zu bestehen, dass nur noch ihre eigenen Vorstellungen umgesetzt würden.

Die Bereitschaft, einen Kompromiss oder einen Interessenausgleich zu finden, sinke dagegen. "Und das bedeutet dann, dass Menschen sagen, ja, wenn meine Interessen nicht umgesetzt werden, dann lehne ich das System ab, dann beleidige ich den Politiker, der meine Interessen nicht umsetzt", so Tetzlaff. 

Immerhin gibt es seit 2021 eine zentrale Anlaufstelle für alle kommunalen Amts- und Mandatsträger hierzulande: "Stark im Amt" heißt das Online-Portal für Kommunalpolitik gegen Hass und Gewalt, dass die Körber-Stiftung zusammen mit dem Deutschen Städtetag, dem Deutschen Landkreistag und dem Deutschen Städte- und Gemeindebund initiiert hat. An die 3.000 Lokalpolitiker klicken monatlich auf die Seite, um sich über Strategien zur Prävention und gegen Bedrohung und Online-Hetze zu informieren.

Falls sich Lokalpolitiker nach der Attacke auf Matthias Ecke aus Angst um ihre Sicherheit zurückziehen, befürchtet Sven Tetzlaff ein bedrohliches Szenario: "Wenn sich auf der ersten Ebene der Demokratie, in den mehr als 11.000 Kommunen in Deutschland, die Leute nicht mehr engagieren, nicht mehr das kommunalpolitische Ehrenamt ausüben, dann sehen die Menschen in der Provinz, in den Landstrichen, in den Städten und in den Dörfern, dass die Demokratie nicht mehr funktioniert. Und wenn wir vor Ort kein Vertrauen mehr haben, dass dieser demokratische Staat weiterhin funktioniert, haben wir in Deutschland wirklich ein massives Problem."

Porträt eines blonden Manns im schwarzen Hemd
Oliver Pieper DW-Reporter und Redakteur