Jemen Humanitäre Lage
21. September 2011Immer wieder haben in den vergangenen Tagen regimetreue Sicherheitskräfte im Zentrum der Hauptstadt Sanaa das Feuer auf Demonstranten eröffnet und dabei auch von schweren Waffen Gebrauch gemacht. Regierungstreue Heckenschützen sollen von Dächern wahllos in die Menschenmenge geschossen haben. Außerdem hätten Saleh-Anhänger in Zivil die Demonstranten mit Gewehren, Schwertern und Schlagstöcken angegriffen. Dies berichten Sprecher der Protestbewegung, denen zufolge seit Sonntag (18.09.2011) mindestens 70 Menschen bei den Protesten getötet wurden.
Salehs langer Arm?
Die Unruhen waren wieder aufgeflammt, während ein Plan zur friedlichen Machtübergabe des nach Saudi-Arabien geflüchteten Präsidenten Ali Abdullah Saleh weiter auf seine Umsetzung wartet. Der seit 1990 de facto uneingeschränkt herrschende Saleh war Anfang Juni bei einem Raketenanschlag auf den Präsidentenpalast so schwer verletzt worden, dass er sich zur Behandlung in das befreundete Saudi-Arabien begeben musste. Seine von ihm wiederholt angekündigte Rückkehr blieb bislang aus, während das Land immer mehr in politisches und wirtschaftliches Chaos abgleitet.
Annette Büchs, Jemen-Expertin beim Hamburger Giga-Institut, sieht die Kräfte des Regimes hinter der jüngsten Eskalation von Gewalt: "Saleh hatte immer damit gedroht, dass das Land im Bürgerkrieg versinken würde, sobald er von der Bildfläche verschwindet. Damit hat er seine Herrschaft über all die Jahre legitimiert. In Wirklichkeit hält er die Fäden aber immer noch in der Hand, vor allem über seinen Sohn, der die Republikanische Garde befehligt, und über seine Neffen in den Sicherheitsdiensten des Landes. Die momentan eskalierende Gewalt kann durchaus als Taktik gewertet werden, das Land immer mehr in bürgerkriegsähnliche Zustände versinken zu lassen."
Militär hält noch zu Saleh
Während sich Mitglieder des Saleh-Clans und der Führer der Stammeskonföderation der Haschid, Sadik al-Ahmar, seit Monaten einen erbitterten Kampf um die Vorherrschaft im Jemen liefern, hat die Oppositionsbewegung auf den Straßen der Hauptstadt ihre Aktivitäten verstärkt. Am Montagabend sollen Anhänger der Opposition nach unbestätigten Berichten einen Militärstützpunkt der Saleh-treuen Republikanischen Garde gestürmt haben, ohne dass dabei ein Schuss gefallen sei. Im Zentrum der Stadt wurde eine Zeltstadt der Demonstranten erweitert. Gegenwärtig verhielten sich große Teile der Truppen noch loyal zu Saleh, berichtet Jemen-Expertin Büchs, die eine Konfrontation innerhalb der Sicherheitskräfte für die wahrscheinlichste Entwicklung hält: "Es wird eher zu einem Showdown zwischen den Pro-Saleh- und Anti-Saleh-Teilen im Militär kommen, als dass die derzeit noch loyal zu Saleh stehenden Kräfte einfach überlaufen."
Jemen steuert auf Hungersnot zu
Die jüngste Welle der Gewalt im Jemen dürfte die humanitäre Lage dort verschlimmern. Schon vor Ausbruch der Unruhen im Februar war der Jemen das ärmste Land der Arabischen Welt. Das Land ist ohne große Erdölvorkommen, drei Viertel der Industriebetriebe sollen inzwischen ihre Produktion eingestellt haben.
Oxfam und andere Hilfsorganisationen warnen vor einer sich anbahnenden Hungerkatastrophe. Jeder Dritte der 22 Millionen Jemeniten leide schon jetzt unter Hunger, sagt Richard Stanforth, Jemen-Beauftragter von Oxfam: "Die Situation ist dramatisch. Ein Viertel der Frauen zwischen 15 und 49 Jahren leidet unter schwerer Unterernährung. Der Preis für Trinkwasser ist in den letzten Monaten um das Siebenfache gestiegen, Gas zum Kochen ist in vielen Landesteilen kaum noch zu bekommen. Die Energieversorgung ist aufgrund der Unruhen immer häufiger unterbrochen. Aber ohne Strom können die Menschen kein Trinkwasser mehr aus dem Boden pumpen. Hinzu kommt, dass die Menschen ihre Arbeit verloren haben und infolgedessen ihre Familien nicht mehr ernähren können." In der westjemenitischen Provinz Hodeida haben viele Eltern ihre Kinder aus der Schule genommen, um sie in ihrer Not für den Lebensunterhalt arbeiten zu lassen. Jede dritte Familie verzichte bereits auf eine volle Mahlzeit, um über die Runden zu kommen, so Oxfam.
Weltbank stoppte Zahlungen
Doch statt der benötigten Hilfe kommt von außen immer weniger Geld in das Land. Infolge der politischen Unruhen und wegen der im Lande weit verbreiteten Korruption hat die Weltbank ihre Hilfsprogramme für den Jemen in Höhe von 542 Millionen US-Dollar gestoppt. Auch dem Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen fehlen 60 Millionen US-Dollar, ein Drittel der eingeplanten Mittel, für seine Hilfsprogramme im Jemen. Die internatonale Staatengemeinschaft scheine den Jemen weitgehend vergessen zu haben, sagt Oxfam-Mitarbeiter Richard Stanforth: "In Libyen wurden von den Golfstaaten und westlichen Geberländern über eine Milliarde Dollar an Hilfsgeldern zur Verfügung gestellt, sogar während der Kämpfe. Ägypten hat Kredite von der Weltbank in Höhe von 4,5 Milliarden US-Dollar bekommen. Tunesien wurden ebenfalls ein Milliardenkredit angeboten. Im Jemen aber bleiben die Hilfsgelder aus."
Eines der Länder, das noch hilft, ist Saudi-Arabien. Das Nachbarland, in das sich Abdullah Saleh nach dem Angriff auf seinen Präsidentenpalast geflohen hat, zahlt Jahr für Jahr Millionenbeträge an Direkthilfe an die Stammesoberhäupter im Jemen aus. Leider, so Stanforth, komme ein großer Teil dieser Gelder niemals bei den Armen an, sondern "verschwindet auf irgendwelchen Bankkonten in den Golfstaaten."
Autor: Daniel Scheschkewitz
Redaktion: Hans Spross