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Gewaltsame Entladung sozialer Spannungen

Christian Ignatzi25. Mai 2013

Nach den Krawallen in Stockholm wird klar: Schweden wird seinem Ruf als Vorzeigeland nicht gerecht. Die Migranten im Land fühlen sich ungerecht behandelt. Der Aufschrei in den Brennpunkten könnte dem Land helfen.

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Brennendes Auto in Stockholm. (Foto: Reuters)
Bild: Reuters

Schweden - das Märchenland, in dem Astrid Lindgrens Geschichten spielen, in dem Nils Holgersson mit Gänsen unterwegs ist. Das Land, in dem die Jugendlichen gebildet und die Erwachsenen rechtschaffen sind. Ein Musterbeispiel für soziale Gerechtigkeit und Integration. Ein Land, in dem in den Vorstädten Autos brennen. Zwischen Anspruch und Wirklichkeit scheinen nach den Jugendkrawallen, die Schweden seit Tagen heimsuchen, plötzlich Welten zu liegen. "Auch in Schweden ist nicht alles Gold, was glänzt", sagt Tobias Etzold vom Nordeuropaprojekt der Stiftung Wissenschaft und Politik im DW-Gespräch. "Auch ein vermeintliches Vorzeigeland wie Schweden, mit einem gut funktionierenden Wohlfahrtsstaat und relativ wohlhabenden Bewohnern, ist nicht sicher vor der Wirtschafts- und Finanzkrise in Europa."

Spannungen zwischen Arm und Reich

Was die heile Welt im nordeuropäischen Staat derzeit gewaltig ins Wackeln bringt, sind die Krawalle, die in Stockholms Vorort Husby anfingen - einem Städtchen mit 12.000 Einwohnern, von denen 85 Prozent einen Migrationshintergrund haben. Mehr als ein Drittel der Menschen zwischen 20 und 25 Jahren ist dort arbeitslos. Die schwedische Regierung war nach der letzten Krise 2008 / 2009 dazu gezwungen, zu sparen. Zwar hat der Staat die wirtschaftlichen Probleme durch Reformen schnell wieder in den Griff bekommen, damit aber auch den schwächeren Teil der Bevölkerung hart getroffen. "Die Regierung hat für Einschnitte bei Arbeitslosenleistungen und Krankengeldern gesorgt, auf der anderen Seite aber Steuererleichterungen für Wohlhabende ermöglicht", sagt Etzold. "Und so etwas führt zu einer immer größeren Spaltung in der Gesellschaft zwischen Arm und Reich", erklärt Almut Möller von der Deutschen Gesellschaft für auswärtige Politik im Gespräch mit der DW.

Vor einer Demonstration gegen polizeiliche Gewalt stehen Menschen am Bahnhof von Husby. (Foto: JONATHAN NACKSTRAND/AFP/Getty Images)
Vor einer Demonstration gegen polizeiliche Gewalt stehen Menschen am Bahnhof von HusbyBild: JONATHAN NACKSTRAND/AFP/Getty Images

In Vororten wie Husby könne man die Probleme deutlich sehen. Die Vorstädte wurden in den sechziger und siebziger Jahren gebaut, um billigen Wohnraum zu schaffen. In die Sozialwohnungen für Schwächergestellte sind damals Schweden gezogen, nach und nach aber auch immer mehr Migranten. "Schweden hat eine liberale Einwanderungspolitik, so dass der Anteil an Migranten insgesamt sehr hoch ist", sagt Möller. Die Schweden zogen aus den Vierteln weg, die Migranten blieben. Wenn die Arbeitslosigkeit insgesamt steigt, werden die Unruhen in Vierteln, in denen der Zugang zu Bildungs- und Arbeitsmöglichkeiten schwieriger ist, größer. "Und in Schweden liegt die Jugendarbeitslosigkeit mit etwa 24 Prozent deutlich über dem EU-Durchschnitt", erklärt Möller.

Latent vorhandene Gewaltbereitschaft

Das Fass zum Überlaufen brachte schließlich die Erschießung eines 69 Jahre alten Immigranten durch die Polizei, die sich auf Notwehr beruft. "Ohne dieses Ereignis wäre die Situation wahrscheinlich nicht eskaliert", glaubt der Soziologe Martin Diewald von der Universität Bielefeld. Häufig seien es solche Ereignisse, die zu einem Ausbruch einer latent vorhandenen Gewaltbereitschaft führen. "Bei einer Gruppe, die sich ohnehin schon - keineswegs zu Unrecht - als diskriminiert erlebt, kocht die Aggression dann eben über, wenn sie etwas erlebt, was sie für einen Übergriff hält." Den Immigrantengruppen in Schweden würden Respekt und Anerkennung verweigert. "Das ist ein sensibler Indikator für Verletztheit, denn für das Merkmal des Migrantenstatus kann ja niemand etwas", sagt Diewald im DW-Gespräch. Armut hingegen würde tendenziell eher zu Resignation führen und als individuelles Versagen angesehen werden.

Ein Feuerwehrmann begutachtet ein ausgebranntes Auto in Stockholm. (Foto: JONATHAN NACKSTRAND/AFP/Getty Images)
Ein Feuerwehrmann begutachtet ein ausgebranntes Auto in StockholmBild: Jonathan Nackstrand/AFP/Getty Images

Das Integrationsprogramm ist gescheitert

Allmählich, sagt die Polizei, bekomme sie die Krawalle in den Griff. Längerfristig könnten die Ausschreitungen dafür sorgen, dass sich die Situation in den Vororten verbessert, sagt Wissenschaftler Etzold: "Die Politik war überrascht von der Gewalt, weil sie die Probleme in den Vierteln lange Zeit vernachlässigt hat. Möglicherweise trägt die Situation zu einem wachsenden Bewusstsein bei, dass die Regierung mehr tun muss." Das Integrationsprogramm des Landes, das so oft als Vorbild vorgeführt wurde, sei gescheitert. Künftig müsse der Staat in die Bildung und den Arbeitsmarkt investieren. Nur dann könne Schweden seinem guten Ruf als Vorzeigeland wieder gerecht werden. Denn: "Der ist aktuell mehr Klischee als Realität."