"Die Arbeitswelt ist in Unordnung"
13. März 2019Deutsche Welle: Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) feiert ihr 100-jähriges Bestehen und ist heute eine der größten Sonderorganisationen der Vereinten Nationen. Wo stünde denn die Welt ohne sie?
Reiner Hoffmann: Die Internationale Arbeitsorganisation hat in ihrer hundertjährigen Geschichte ganz maßgeblich dazu beigetragen, dass gute Bezahlung, aber auch soziale Sicherheit in vielen Ländern realisiert wurde.
Wie beeinflusst die ILO die Art und Weise, wie wir heute global arbeiten?
Beispielsweise dadurch, dass die Kernarbeitsnormen der Internationalen Arbeitsorganisation von fast allen Ländern auf unserem Globus ratifiziert wurden. Das ist schon mal ein Fortschritt. Das wird nicht überall eingehalten, wenn es beispielsweise um wichtige Dinge geht, wie das Verbot von Kinderarbeit. Wir erinnern uns auch an Bilder aus der Textilindustrie in Bangladesch, wo Menschen ums Leben kamen. Die Welt ist leider nach wie vor in Unordnung - auch was die Gestaltung von Arbeit anbelangt.
Die ILO sagt, "Weltfrieden kann auf Dauer nur auf sozialer Gerechtigkeit aufgebaut werden", und setzt sich mit ihren sogenannten Kernarbeitsnormen gegen die Abschaffung der Kinder- und Zwangsarbeit, für Gewerkschaftsfreiheit und Gleichberechtigung zwischen Männer und Frauen im Beruf ein. Nun gibt es weiter Diskriminierung am Arbeitsplatz, moderne Sklaverei und katastrophale Arbeitsbedingungen. Ist die ILO wirkungslos?
Die Kritik ist berechtigt. Deshalb sind wir auch der Auffassung, dass wir die Internationale Arbeitsorganisation insgesamt stärken müssen. Es reicht eben nicht aus, dass man sich in der internationalen Gemeinschaft unter dem Dach der Vereinten Nationen über Standards verständigt. Es kommt auch darauf an, dass sie implementiert werden, und wann immer notwendig auch sanktioniert werden. Zum Beispiel kann es doch nicht sein, dass wir in Deutschland Kunden von Unternehmen sind, die die ILO-Arbeitsnormen nicht einhalten.
Was soll das konkret bedeuten?
Beispielsweise kommt es darauf an, dass die Unternehmen, die im Ausland investieren oder Handelsbeziehungen unterhalten, auch mit dazu beitragen, dass die Arbeitsnormen in diesen Ländern erfüllt werden. Da sind wir ein paar Schritte weiter, erleben aber auch, dass auf dem Grundsatz der Freiwilligkeit vieles nicht immer gelingt. Deshalb brauchen wir eine größere Verbindlichkeit und auch Sanktionsmechanismen, wenn es darum geht, dass Arbeitsnormen der ILO verletzt werden. Da muss der Druck von den Vereinten Nationen über die Internationale Arbeitsorganisation deutlich erhöht werden.
Aber die Bereitschaft für internationale Zusammenarbeit ist angesichts des zunehmenden Nationalismus alles andere als gestiegen?
Der Mulitlateralismus ist arg unter die Räder gekommen: Wir erleben, dass nationalistische Politik in Teilen Europas, aber auch in den Vereinigten Staaten betrieben wird. Oder, dass wir staatskapitalistische autoritäre Systeme haben, wie in Russland oder in China, wo die ILO-Normen keine wirkliche Bedeutung haben. Selbst ein so reiches Land wie die Vereinigten Staaten hat vier wichtige Kernarbeitsnormen der Internationalen Arbeitsorganisation bis heute nicht anerkannt. Da wird es Zeit, damit Schluss zu machen. Dass zukünftig beispielsweise die Europäische Union nur noch Handelsabkommen abschließt, wenn in den Partnerländern die ILO-Arbeitsnormen zur Anwendung kommen.
"Arbeit ist keine Ware", schreibt die ILO in ihren Zielen. Wenn wir jetzt mal auf die Digitalisierung schauen, da werden aktuell kleinste Arbeitsschritte ausgelagert. Da wird Arbeit doch zur Ware?
Es ist ein großes Risiko, dass wir mit der Digitalisierung und der Globalisierung eine neue Generation von digitalen Tagelöhnern haben; dass die Plattformanbieter es ablehnen, ihre soziale Verantwortung anzuerkennen. Die ILO hat gerade einen Bericht erarbeitet, da werden wichtige Themen angeschnitten. Wir brauchen einen ehrgeizigen globalen Sozialvertrag. Da muss geklärt werden, wer hier eigentlich noch der Arbeitgeber ist, der in die Verantwortung genommen wird. Deshalb hat die ILO heute eine genauso bedeutende Funktion wie vor 100 Jahren.
Warum haben Sie Hoffnung - trotz aller Rückschläge - dass die ILO-Arbeitsnormen eines Tages auch weltweit angewendet werden?
Die Menschen brauchen ein solides Arbeitseinkommen, damit das, was an Wohlstand produziert wird, dann auch letztendlich konsumiert werden kann. Dafür haben viele Millionen Menschen heute keine Grundlage. Es ist im wohlverstandenen Interesse kapitalistischer Ökonomien - wenn sie nicht untergehen wollen - Entlohnungsbedingungen so zu gestalten, dass es gerecht zugeht. Mittlerweile machen sich auch aufgeklärte Kapitalisten bei ihren jährlichen Treffen in der Schweiz in Davos Sorgen um die Zukunftsfähigkeit kapitalistischer Ökonomie. Wenn dieses Nachdenken, dann auch in einer veränderten Politik mündet, dann glaube ich, gibt das Grund zu Optimismus.
Reiner Hoffmann ist seit 2014 Vorsitzender des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB). Acht deutsche Gewerkschaften sind unter dem Dach des DGB versammelt mit fast sechs Millionen Mitgliedern.
Das Gespräch führe Nicolas Martin.