Gladiatoren: Das Kolosseum als Vorläufer des Reality-TV?
13. November 2024Der Film "Gladiator", ein Blockbuster des britischen Starregisseurs Ridley Scott aus dem Jahr 2000, war ein monumentales Epos, das zahlreiche Preise und Nominierungen erhielt. 24 Jahre später kommt nun weltweit die Fortsetzung in die Kinos - ebenfalls unter Regie des mittlerweile 86-jährigen Scott, der auch Kultfilme wie "Alien" (1979), "Blade Runner" (1982) und zuletzt "Napoleon" (2023) gedreht hat.
Heldengeschichten haben die Menschheit seit jeher interessiert - in ganz verschiedenen Ausprägungen. Und wenn man genauer hinsieht, lassen sich einige Parallelen zwischen der antiken römischen Tradition der Gladiatoren und gegenwärtigen Reality-Fernseh-Shows ausmachen.
Gebt dem Volk "Brot und Spiele"
"Panem et circensem", Brot und Spiele - dieser Ausdruck wird dem römischen Dichter und Satiriker Juvenal zugeschrieben. Er war überzeugt, man könne die Menschen leicht manipulieren, wenn man sie nur ausreichend mit Nahrung versorgt und ihnen genug Unterhaltung bietet. Juvenal warf der römischen Bevölkerung vor, sich nicht genug für Politik zu interessieren und sich stattdessen an oberflächiger Unterhaltung zu ergötzen. In der Tat war der Kampf der Gladiatoren eines der "großartigsten politischen Instrumente seiner Zeit", sagt der Historiker Alexander Mariotti, der als Gladiatoren-Experte passenderweise in der Nähe des Kolosseums in Rom wohnt.
Der römische Kaiser Vespasian, der das riesige Amphitheater einst in Auftrag gab, hatte die Macht in schwierigen Zeiten übernommen: Rom hatte gerade einen Bürgerkrieg hinter sich und befand sich in Aufruhr. "Vespasian war ein Mann des Volkes, und ihm war klar, dass er einen Weg finden musste, um die Menschen für sich zu gewinnen", so Mariotti gegenüber der DW. "Die Römer verteilten sogar Getreide während der Spiele - das war das 'Brot'. Und die 'Zirkusspiele' waren diese aufwendigen Veranstaltungen im Kolosseum."
Reality-TV - moderne "Zirkusspiele"?
Olivia Stowell ist Doktorandin an der Universität Michigan und erforscht die Geschichte der Reality-Shows. Sie sieht eine Verbindung zwischen Gladiatorenkämpfen und Sendungen wie "Survivor" (Die Kandidaten der TV-Show werden auf einer verlassenen Insel oder in der Wildnis ausgesetzt, um dort als Robinson Crusoe des 21. Jahrhunderts zu überleben, Anm. d. Red). In beiden Fällen konkurrieren Menschen um die Gunst der Zuschauer.
Die 1948 erstmals ausgestrahlte Show "Candid Camera" (eine US-Fernsehserie aus dem Jahr 1948, bei der Reaktion von Leuten auf inszenierte Szenen mit versteckter Kamera gefilmt wurden, Anm. d. Red.) wird oft als erste Reality-TV-Sendung bezeichnet, ergänzt Stowell und fügt schmunzeln hinzu: "Aber ich sollte meine Vorgeschichte des Reality-TV ausweiten, ich sollte mit dem Kolosseum beginnen!“
Man könnte an dieser Stelle einwenden, dass die Teilnehmerinnen und Teilnehmer einer Fernsehsendung wie "Survivor" sich in der Regel freiwillig melden - anders als die Gladiatoren in der Antike. Doch das ist nicht ganz richtig. Zu Beginn waren die meisten von ihnen tatsächlich Sklaven oder Kriminelle, die zum Kampf in der Arena gezwungen wurden. Als die Spiele beliebter wurden, meldeten sich aber zunehmend mehr Menschen freiwillig bei den "Gladiatorenschulen" an. Dort wurden sie professionell ausgebildet - und zu echten Helden, die römische Tugenden wie Mut und Stärke verkörperten.
"Wir wissen, dass um 75 v. Chr. etwa die Hälfte aller Gladiatoren freie Menschen waren. Und sie wurden großzügig dafür bezahlt: Sie bekamen 2000 Sesterzen als Antrittsprämie. Zum Vergleich: Der Jahreslohn eines römischen Soldaten betrug 900 Sesterzen", erklärt Mariotti. Es war also eine Möglichkeit, Geld zu verdienen.
Tod oder Ruhm - ein Glücksspiel
Die Gladiatoren wussten, dass sie ihr Leben riskierten. Aber es gab auch die Chance, reich und berühmt zu werden. "Sie waren die sexuell begehrtesten Sportler ihrer Zeit", sagt Mariotti. "Sie standen ganz unten in der Gesellschaft, wurden aber zugleich bewundert." Man dürfe nicht vergessen, fügt der römische Historiker hinzu, "dass es in der Antike sehr viel schwieriger war, seinen sozialen Status zu verändern" - siegreiche Kämpfer jedoch konnten darauf hoffen.
Teilnehmer von Reality-Shows riskieren nicht unbedingt ihr Leben, aber auch sie müssen auch etwas opfern, sagt Olivia Stowell. Nämlich "Privatsphäre - und zu einem gewissen Grad auch ihre Würde." All das in der Hoffnung auf Ruhm und Reichtum.
Eine beliebte Methode, um die Reality-Stars unter Druck zu setzen und mehr Spannung zu erzeugen: Schlafentzug und die großzügige Bereitstellung von Alkohol, so dass Hemmungen schneller fallen. Oft sind sie zudem - ähnlich wie die Gladiatoren - von der Außenwelt abgeschnitten und damit auch von Menschen und Orten, die ihnen Halt und Kraft geben könnten. Berühmte Beispiele für solche Shows sind "Der Bachelor", "Survivor" oder "Big Brother".
Show-Produzent - das Oberhaupt in der Arena?
Vergleicht man Gladiatoren und Teilnehmer einer modernen Reality-Show miteinander, stellt sich die Frage: Wer ist der Kaiser in dieser modernen Variante? "Ich denke, das sind wir - die Showmacher", sagt Sagar More, Produzent und Regisseur aus Mumbai in Indien - einem Land, in dem Reality-Shows boomen. More hat Regie bei zehn Staffeln der in Indien extrem populären Reality-Show "Roadies" geführt. Mitmachen würde er selbst nicht, wie er ganz ehrlich zugibt. "Niemals: Ich weiß, was die Leute bei mir durchmachen müssen."
"Roadies" begleitet junge Leute 30 Tage lang auf ihrer Reise durch verschiedene Teile des Landes, wo sie sich unterschiedlichen Aufgaben stellen müssen. "Wir schaffen Situationen, in denen die Teilnehmenden an ihre körperliche, sozialen und mentalen Grenzen kommen. Mit der Zeit sind die Herausforderungen immer schwerer und damit auch intensiver geworden", sagt er.
More weist auch daraufhin, dass es in der Regel eine Unmenge an Filmmaterial gäbe. Es läge in der Hand der Redakteure und Redakteurinnen zu entscheiden, was ausgestrahlt wird und was nicht. Eine machtvolle Position, denn "sie können den Verlauf einer Geschichte tatsächlich verändern", so More. Das wichtigste Kriterium im Entscheidungsprozess: die Zuschauer zu unterhalten.
Die Gunst des Publikums
Im alten Rom war es der Kaiser, der direkten Einfluss auf das Schicksal der Gladiatoren hatte. Aber auch er hatte das Publikum im Blick - um seine eigenen Popularität nicht zu gefährden. Verlor einer der Gladiatoren seine Waffe und hob den Finger - die Geste, mit der um Gnade gebeten wurde - forderte der Kaiser in der Regel die Menge auf, durch Handzeichen oder Rufe zu signalisieren, ob der Gladiator begnadigt oder hingerichtet werden sollte.
In Reality-Shows wird nicht über Leben oder Tod entschieden. Aber es gibt Sendungen, bei denen die Zuschauer entscheiden, wer bleiben darf und wer nicht. Trotz aller Beliebtheit beim Publikum gibt es in den letzten Jahren auch scharfe Kritik an diese Art der Fernseh-Unterhaltung - sei es wegen schlechter Arbeitsbedingungen am Set oder der Propagierung von Schönheitsidealen, die der Gesundheit schaden. Besonders in den Fokus gerückt ist das Thema der psychischen Gesundheit. Teilnehmer solcher Shows haben oft über Einsamkeit, Ängste und sogar Depressionen gesprochen, die sie während und nach den Dreharbeiten erlebten.
Gladiatorenkämpfe wurden zu Beginn des 5. Jahrhunderts verboten, aber auch heute noch ziehen Filme über sie viele Menschen an. Der erste "Gladiator"-Film von Ridley Scott spielte weltweit rund 457 Millionen Dollar (419 Millionen Euro) ein. Und es wird erwartet, dass auch die Fortsetzung einen ähnlichen Erfolg erzielen wird. Um es mit Juvenal zu sagen: Brot und Spiele braucht das Volk. Und deswegen werden Reality-Shows wohl weiterhin ein treues Publikum haben.
Dieser Artikel basiert auf einer Podcast-Episode von Charli Shield, Rachel Stewart und Sam Baker. Der englischsprachigen DW-Podcast "Don't Drink the Milk: The curious history of things" ist auf unserer Website zu hören - oder auf jeder beliebigen Podcastplattform.