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Goethe: Der Popstar seiner Zeit?

Annika Sost
28. September 2024

Johann Wolfgang von Goethe hatte viele "Follower" - und das, obwohl es zu seiner Zeit kein Internet gab. Was heute vor allem in Schulen gelesen wird, wurde einst konsumiert wie Beiträge in den sozialen Medien.

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Ein Gemälde, auf dem Goethe als junger Mann zu sehen ist, der eine Silhouette in der Hand hält.
Goethe als junger Mann (1775)Bild: akg-images/picture-alliance

Vor 250 Jahren erschien der Brief-Roman "Die Leiden des jungen Werther" und verhalf dem damals 25-jährigen Johann Wolfgang von Goethe zum weltweiten Durchbruch. Ein Gerücht besagt, dass der französische Kaiser Napoleon Bonaparte den Werther ganze sieben Mal gelesen haben soll. Bei einem Zusammentreffen mit Goethe soll er wohl kaum über etwas anderes gesprochen haben. 

Der Protagonist des Romans ist Werther, der stets beim Nachnamen genannt wird und keinen Vornamen zu haben scheint. Er verliebt sich in die bereits verlobte Lotte. Während Werther sich in seine Gefühle zu ihr immer weiter hineinsteigert, bleibt sie ihrem Verlobten treu. Als Werther keinen anderen Ausweg aus der unerwiderten Liebe sieht, nimmt er sich am Ende das Leben.

Junge Männer im "Werther-Fieber"

In der Epoche des "Sturm und Drang" - eine Zeit, in der sich junge Schreibende gegen die Vernunftbesessenheit des Adels wehrten - traf Goethe mit seinem Werther den Zeitgeist der jungen Generation. Vor allem viele junge Männer schienen mit Werther zu fühlen und sich sogar mit ihm identifizieren zu können.

Dies kam unter anderem zum Ausdruck durch die Nachahmung der im Roman beschriebenen Mode. "Man hat sich zum Beispiel so gekleidet wie Werther - blaues Jackett und gelbe Weste - was durchaus unüblich war", beschreibt Heinz Drügh, Professor für Literaturgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts an der Goethe-Universität in Frankfurt. Dieses Phänomen wird oft auch "Werther-Fieber" genannt. Drügh bezeichnet den Werther als "gesamteuropäisches Phänomen", aber auch in Ostasien sei er bis heute sehr populär.   

Holzstich: Ein Mann und eine Frau sitzen auf einer Couch, er liest ihr etwas vor.
Szene aus dem Buch: Werther liest seiner großen Liebe vor Bild: akg-images/picture-alliance

Goethe - der Popstar?

Kann ein Roman heute noch einen solch großen Einfluss auf die Gesellschaft ausüben? "Ich glaube, die starken identifikativen Erlebnisse kommen heute eher von Filmen und Musik als von der Literatur", erklärt Drügh.  

Der Werther habe etwas "Neues eröffnet", Goethe habe damit eine neue Denkweise angestoßen. Aus heutiger Sicht sei Goethe vielleicht so etwas wie ein "Popstar", sagt Drügh, "weil die Art der Identifikation mit diesem Text so stark war, wie es  heute tatsächlich bei popkulturellen Dingen ähnlich sein könnte".  

#DailyDrone: Goethes Gartenhaus

"Der Werther-Effekt"

Der Einfluss des Werthers hatte jedoch auch seine Schattenseiten. Denn das "Werther-Fieber" schließt auch den "Werther-Effekt" mit ein: Nach der Veröffentlichung kam es zu einer Reihe von Suiziden, die mit dem Roman in Verbindung gebracht wurden. Goethe selbst veröffentlichte deshalb auch eine zweite Fassung des Romans. Die zweite Fassung war umfangreicher und sollte dabei helfen, sich beim Lesen vom Werther zu distanzieren.   

Foto des Titelblatts von 1774 "Die Leiden des jungen Werther"
Die Erstausgabe von "Die Leiden des jungen Werther" wurde von der Weygandschen Buchhandlung in Leipzig verlegtBild: akg-images/Heiner Heine/picture-alliance

Den Begriff "Werther-Effekt" prägte - 200 Jahre später - der Soziologe David Philipps, um zu erklären, wie romantisierte Darstellungen von Suizid in den Medien Nachahmungsverhalten, besonders bei Jugendlichen, auslösen können.

Was sind die Vorbilder von heute?  

Noch vor wenigen Jahrzehnten waren Popstars die klassischen Vorbilder. Der Psychologe und Psychotherapeut Lothar Janssen erklärt, dass heutzutage durch Social Media Vorbilder vor allem für junge Leute immer mehr in "Teilsegmente zersplittern, die nicht mehr greifbar sind".  

Janssen spricht von "Mini-Werthern" im Internet: junge Menschen, die ihren Umgang mit psychischen Erkrankungen auf Social Media teilen. Mit diesen könnten sich andere häufig identifizieren, allerdings hätten die Posts oft "selbstdarstellerische Züge" und erreichten durch das Medium Internet ungefiltert eine breite Öffentlichkeit.   

Experten betonen, dass ein offener Umgang mit psychischen Krankheiten und Suizid wichtig sei, dabei sei jedoch entscheidend, wie das Thema - vor allen in den Medien - behandelt werde. Um den "Werther-Effekt" zu vermeiden, müsse darauf geachtet werden, mentale Krankheiten und Suizid nicht zu romantisieren. 

Eine Menge junger Frauen, die auf der Straße tanzen und singen.
Taylor Swift-Fans: Gemeinschaftsgefühl und gute LauneBild: Heinz-Peter Bader/AP/dpa/picture alliance

Vorbilder noch immer gefragt 

Popstars sind allerdings nicht ganz vom Tisch. Die amerikanische Sängerin Taylor Swift beispielsweise kommt dem klassischen Vorbild sehr nahe. Um sie herum hat sich eine Gemeinschaft gebildet, in der sich die Fans "aufgehoben und gut" fühlen, erklärt Psychologe Janssen. Wenngleich Goethe seinen Popstar-Status abtreten musste, bleiben er und seine Werke - so auch die "Leiden des jungen Werther" - bis heute bekannt.