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Gorbatschow: In Russland in der Kritik

Roman Goncharenko
31. August 2022

In Deutschland wurde Michail Gorbatschow vor allem für sein grünes Licht zur Wiedervereinigung gefeiert, aber in Russland scharf kritisiert. Sind die russischen Vorwürfe wegen des "Zwei-plus-Vier-Vertrags" berechtigt?

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Deutschland Berlin 2014 | Michail Gorbatschow, ehemaliger Präsident der Sowjetunion
Bild: Getty Images/AFP/O. Andersen

Im Westen geschätzt, zu Hause unbeliebt: Das politische Erbe des am Dienstag verstorbenen letzten sowjetischen Staatschefs Michail Gorbatschow sorgt immer wieder für Kritik in Russland. Die deutsche Einheit, festgehalten am 12. September 1990 im so genannten Zwei-plus-Vier-Vertrag, spielt dabei eine zentrale Rolle. Die Hauptvorwürfe: Der damalige Kremlchef habe zu wenig Geld von der Bundesregierung für seine Zustimmung gefordert und die NATO-Erweiterung nicht verhindert.

Gorbatschow hätte härtere Bedingungen für die NATO-Mitgliedschaft des vereinten Deutschlands aufstellen können, hieß es in den vergangenen Jahren immer wieder in Moskau. Politiker und Kreml-nahe Experten kritisieren nicht die deutsche Wiedervereinigung an sich, sondern Gorbatschows Umgang damit.

Auch der russische Präsident Wladimir Putin sprach 2017 in einem Interview von einem "Fehler Gorbatschows". Dieser hätte während Verhandlungen über Deutschland von der NATO verbindliche Garantien einfordern sollen. Gorbatschow wies diese Kritik zurück. 

Wie Gorbatschow Kohl grünes Licht gab

Kohl und Gorbatschow in Juli 1990 beim Gipfel im Kaukasus
Kohl und Gorbatschow beim Gipfeltreffen im Kaukasus im Juli 1990 Bild: picture-alliance/dpa

Unterzeichnet wurde der Zwei-plus-Vier-Vertrag in Moskau von den Außenministern der Bundesrepublik Deutschland und der DDR sowie der vier Siegermächte des Zweiten Weltkriegs – UdSSR, USA, Großbritannien und Frankreich. Das siebenseitige Dokument "über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland" beendete nach mehr als 40 Jahren die deutsche Teilung.

Grenzen wurden verbindlich festgelegt und Sicherheitsfragen geklärt, darunter die NATO-Mitgliedschaft, die Reduzierung der deutschen Streitkräfte von rund einer halben Million allein in der BRD auf 370.000 im vereinten Deutschland sowie der Abzug der Sowjetarmee aus der damaligen DDR. Verhandelt wurde zwischen Mai und September 1990, die Vorgespräche hatten schon kurz nach dem Mauerfall begonnen.

Eine Art Checkliste, mit der Gorbatschow über Deutschland verhandelt hat, ist nicht bekannt. Das macht eine Analyse seiner "Fehler" schwierig. Er selbst glaubte nicht an eine schnelle deutsche Wiedervereinigung und kritisierte Helmut Kohls 10-Punkte-Programm, mit dem der Bundeskanzler Ende November 1989 die Richtung vorgab.

Unterzeichnung des Zwei-plus-Vier-Vertrags am 12. September 1990 in Moskau
Die Unterzeichnung des Zwei-plus-Vier-Vertrags am 12. September 1990 in Moskau Bild: picture-alliance/dpa

Doch schon Anfang 1990 änderte sich die Einschätzung in Moskau. Nach einer Besprechung im inneren Machtkreis habe man festgehalten, die deutsche Einheit sei "unausweichlich", schrieb Gorbatschow in seinen Erinnerungen. Man habe unter anderem beschlossen, Gespräche der vier Siegermächte mit beiden deutschen Staaten anzustoßen und einen Abzug sowjetischer Truppen zu prüfen.

Beim Gespräch mit Kohl in Moskau am 10. Februar 1990 kam der Durchbruch. "Wir hatten Gorbatschows Zustimmung zum Zwei-plus-Vier-Prozess und vor allem auch sein grünes Licht für die Regelung der inneren Aspekte für die deutsche Einheit", schrieb Kohl in seinem Tagebuch. Er überzeugte Gorbatschow, dass nicht die Siegermächte, sondern die deutschen Staaten ihre Zukunft bestimmen sollen, daher die Formel Zwei-plus-Vier.

Truppenabzug nur für Sowjetarmee 

Einer der besonders umstrittenen Punkte war die künftige NATO-Mitgliedschaft des vereinten Deutschlands. Moskau plädierte zunächst für einen neutralen Status, die westdeutsche Regierung in Bonn und Washington waren dagegen. Schließlich gab Gorbatschow nach.

Im Zwei-plus-Vier-Vertrag wurde festgelegt, dass keine NATO-Truppen und keine Atomwaffen auf dem Gebiet der DDR stationiert werden. Über eine Erweiterung der NATO nach Osteuropa wurde zwar am Rande gesprochen; westliche Diplomaten signalisierten, das würde nicht passieren. Vertraglich festgelegt wurde das jedoch nicht.

Kritiker Gorbatschows in Russland meinen, dass er auch den Abzug der alliierten Truppen aus dem vereinten Deutschland hätte fordern sollen. "Natürlich hätte die Sowjetunion die Frage über in Deutschland stationierte ausländische Truppen stellen können", sagt Wladislaw Below, der Leiter des Zentrums für Deutschland-Studien an der Russischen Akademie der Wissenschaften, gegenüber der DW. "Diese Möglichkeit wurde verpasst."

Moskau hätte auch einen Abzug der US-Atomwaffen aus Deutschland fordern sollen, sagt Below. Er verweist darauf, dass deutsche Sozialdemokraten dies in Gesprächen mit Gorbatschow moniert hätten. Martin Aust, Osteuropa-Historiker an der Uni Bonn, vermutet jedoch, "dass das nicht durchsetzbar gewesen wäre. Das wäre das alte Modell, das Stalin einst angeboten hat, so Aust gegenüber der DW: "Eine Vereinigung Deutschlands als neutraler Staat. Das hatte Adenauer bereits ausgeschlossen. Die Regierung Kohl hätte das vermutlich auch abgelehnt."     

Hat Gorbatschow zu wenig Geld gefordert?

Der zweite Hauptvorwurf gegen Gorbatschow ist finanzieller Natur. Moskau habe zu wenig Geld für seine Zustimmung erhalten, so die Kritiker. Die Sowjetunion war wirtschaftlich angeschlagen. Bonn half und schickte zunächst Lebensmittel. Im Sommer 1990 bekam Moskau einen Kredit über fünf Milliarden D-Mark.

Horst Teltschik war zur Zeit der Wiedervereinigung außenpolitischer Berater Helmut Kohls
Vertrauter Kohls: Der ehemalige stellvertretende Leiter des Bundeskanzleramtes Horst Teltschik war an den Verhandlungen der Wiedervereinigung beteiligtBild: picture-alliance/ picturedesk.com/C. Müller

Kurz vor der Unterzeichnung des Zwei-plus-Vier-Vertrags verhandelten Kohl und Gorbatschow erneut über weitere Zahlungen. Der Bundeskanzler schlug zehn Milliarden vor, Gorbatschow wollte mindestens 15. Am 10. September 1990 einigte man sich auf 12 Milliarden D-Mark für den Abzug sowjetischer Truppen plus weitere drei Milliarden in Form eines Kredits.

Dabei war die Bundesregierung offenbar bereit, auch eine größere Summe auf den Tisch zu legen. "Wenn Gorbatschow damals (Februar 1990 – Anm. d. Red.) gesagt hätte: 'Herr Bundeskanzler, ich bin einverstanden, aber das kostet die Bundesrepublik Deutschland 50 Milliarden oder 80 Milliarden' - hätten wir nein sagen können?", sagte Horst Teltschik, der frühere außenpolitische Berater Kohls, in einem DW-Interview im Juli 2010. Moskau hätte bis zu 100 Milliarden D-Mark fordern können, glaubte gar der Gorbatschow-Berater Valentin Falin. 

Für Kritiker wie Below sei Gorbatschow ein schwacher Verhandlungsführer gewesen. Der Kremlchef habe 1990 weniger über sein Land und mehr über seine Rolle in den Geschichtsbüchern nachgedacht. "Deutschland schuldet Gorbatschow und der Sowjetunion großen Dank", so der Bonner Historiker Martin Aust. "Gorbatschow war sehr stark von der Zuversicht geprägt, dass er eine neue Sowjetunion schaffen könnte, dass sie in eine neue Weltordnung eingebunden werde, in der es den amerikanisch-sowjetischen Antagonismus wie im Kalten Krieg nicht mehr geben werde." Diese Hoffnungen gingen jedoch nicht auf. 

Deutschland als Anwalt Moskaus

Während Kritiker in Russland monieren, Gorbatschow hätte auf einer längeren Übergangszeit bestehen sollen, zeigt der Historiker Aust Verständnis für Kohls Eile. Aus deutscher Sicht sei man heute froh, dass die Einheit rasch vollzogen worden sei. Dafür sei Deutschland Gorbatschow dankbar.

Diese Dankbarkeit zeigte die Bundesregierung auch dadurch, dass sie zum Anwalt Moskaus im Westen wurde. Deutschland betrieb eine Annäherung der damaligen G7 an die Sowjetunion und an Russland, half beim Beitritt Russlands zur Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBWE) sowie zum Internationalen Währungsfonds (IWF). Diese und andere Schritte, so Aust, blieben in den Debatten über Gorbatschows Erbe oft unerwähnt. 

 

Aktualisierung eines Artikels, der ursprünglich am 13.09.2020 auf dw.com veröffentlicht wurde.