Grüne Depression
24. Februar 2017Es ist noch ein bisschen früh, aber dennoch reizvoll, einen Blick auf den Trend zu werfen. Die SPD, ein seit Jahren an politischer Schwindsucht leidender Patient, legt innerhalb von Wochen ein Drittel zu. Im gleichen Zeitraum stürzen die Bündnisgrünen - solide Verwalter einer Zehn-plus-x-Minderheit - um ein Drittel in der Wählergunst ab. Zumindest demoskopisch. Der Verdacht liegt nahe: hier ist der Mechanismus der kommunizierenden Röhren am Werk.
Falsche Themen?
Den plötzlichen Liebesentzug bei potentiellen Wählern haben die Grünen schon einmal schmerzlich kennengelernt. Vor vier Jahren bescherte ihnen das Bundestagswahlergebnis äußerst bescheidene 8,4 Prozent. Rund ein Drittel weniger als erwartet. Noch nicht einmal drittstärkste Kraft sind sie seitdem im Parlament, die Linke überholte sie knapp. Ein Trauma bis heute, aber ein selbst eingebrocktes.
Mit dem denkbar unwichtigsten Nebenthema, einen Veggie-Day - quasi als freiwillige Selbstverpflichtung - in den deutschen Ernährungskanon aufzunehmen, vergraulten die Grünen 2013 selbst Teile der Stammwählerschaft. Hinzu kam die späte und quälende Diskussion über frühe grüne Sünden im Umgang mit Pädophilie. Irgendwie waren sie da plötzlich wieder eine gesellschaftliche Randpartei, die merkwürdige Ansichten vertrat. Der Wähler quittierte das prompt.
Und auch jetzt, vier Jahre später, laufen die Bündnisgrünen Gefahr, auf die falschen Themen zu setzen. Unter dem Motto "Zurück zu grünen Wurzeln" wollen die beiden Spitzenkandidaten Cem Özdemir und Katrin Göring-Eckardt offensichtlich das grüne Kerngeschäft wiederbeleben und den Klimawandel im Wahlkampf ganz nach vorne rücken. Das wirkt ehrenwert und dennoch gewagt in Zeiten des rechten Populismus und einer sich abzeichnenden neuen Konjunktur für Fragen der sozialen Gerechtigkeit. Doch weder das eine noch das andere gehört zu den Kernkompetenzen der Grünen.
Klimawandel in populistischen Zeiten
"Leute, es ist Wahlkampf", hatte die frühere Spitzengrüne Claudia Roth in einer Fraktionssitzung ihren Parteifreunden zugerufen. Ein Weckruf, denn die Partei ist gerade wieder dabei, sich in Politikthemen zu verrennen, die viel gute Absicht zeigen, aber wenig Priorität beim Wähler haben dürften. Der Einstieg in den Ausstieg der Massentierhaltung soll her, die Rüstungsexporte wollen sie nach unten fahren. Und: Für die Plastiktüte soll das letzte Stündlein schlagen.
Zumindest die Parteilinken wollen das, und die sind mächtig. Am 10. März ist Präsentation des Wahlprogramms. Bis dahin wird - wenn auch in etwas milderer Form - das alte Fingerhakeln zwischen Realos und Fundis hinter den Kulissen und gelegentlich auch auf öffentlicher Bühne zu bestaunen sein. Oberste Repräsentanten der alten Flügelkämpfe sind der Alt-Linke Jürgen Trittin, der frühere Bundesumweltminister, und der mehr außerhalb als innerhalb der grünen Klientel geschätzte Winfried Kretschmann, erster und einziger grüner Ministerpräsident in Baden-Württemberg.
Beide neigen dazu, die Parteidisziplin regelmäßig zu verletzten und durch Alleingänge den mühsam erstrittenen Konsens zu gefährden. Kretschmann hat es gerade wieder gemacht und die grüne Seele, grünes Selbstverständnis provoziert, in dem er die klassische Ehe als bevorzugte Lebensform der meisten Menschen lobte - "und das ist auch gut so", schrieb er in einem Essay für "Die Zeit". Nichts weniger als ein Anschlag auf das grüne Anliegen "Ehe für alle".
Der Flüchtling, das polarisierende Wesen
Während sich der Umgang mit den Flüchtlingen und damit auch das Thema innere Sicherheit praktisch von selbst für den Wahlkampf ansagen, begeben sich die Bündnisgrünen erneut auf politische Nebenschauplätze. Und selbst ihre Mitbeteiligung an elf Landesregierungen hilft ihnen offensichtlich nicht, daraus politisches Kapital zu schlagen. Bei der Abschiebepraxis sind sie sich im Grundsatz zwar einig, dass das schlecht sei, aber der ein oder andere Landesverband möchte nicht ganz auf dieses juristische Mittel verzichten.
Schon die Bewertung der Übergriffe auf Frauen in der Kölner Silvesternacht bringt die Grünen in der öffentlichen Debatte in die Defensive. Man dürfe die Gewalt gegen Frauen, überwiegend von jungen nordafrikanischen Männern begangen, viele davon Flüchtlinge, nicht dem Flüchtlingsthema zuordnen, forderten einige Spitzengrüne. So etwas gebe es Jahr für Jahr allein schon beim Münchner Oktoberfest. Über solch schiefe Relativierungen schütteln selbst grüne Sympathisanten den Kopf. Und langsam dringt ins Bewusstsein, dass es mit dem Button "Refugees welcome" beim Stimmenfang im Wahlkampf nicht reichen könnte.
Der Schulz-Faktor und die Rot-Rot-Grün-Fantasien
Inzwischen geht die Angst um, dass die politischen Großthemen Flüchtlinge, innere Sicherheit, EU-Krise und Populismus zulasten der Grünen verhandelt werden. Mit Martin Schulz hat die SPD einen Spitzenkandidaten gekürt, der aus dem Stand die Genossen mobilisieren konnte und die gesellschaftliche Gerechtigkeitsfrage wieder nach vorne rückt. Gerhard Schröders harte Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik könnte wieder weich gemacht werden. Die Grünen sind da nur Zuschauer.
Mitwirkende könnten sie aber werden, wenn der Pro-Schulz-Trend bleibt und Grüne und Linke wieder etwas zulegen bis zum Wahltermin. Dann nämlich wäre die politische Premiere Rot-Rot-Grün zum Greifen nahe - wenn nicht der Merkel-Faktor alle linken Fantasien platzen lässt.