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Autorin Guo Xiaolu über Sprache und Exil

Das Interview führte Sabine Peschel9. September 2015

Guo Xiaolu ist in diesem Jahr eine der Autorinnen beim Internationalen Literaturfestival Berlin - und eine mit unorthodoxen Sichtweisen. Im DW-Interview spricht sie über Flüchtlinge, Exil und die Bedeutung von Sprache.

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Deutschland Autorin und Filmemacherin Guo Xiaolu in Düsseldorf. Foto: DW/S. Peschel
Bild: DW/S. Peschel

Deutsche Welle: Die Ankunft tausender Flüchtlinge in Deutschland ist in diesen Tagen das vorrangige Thema. Sie leben gegenwärtig in der Schweiz, sind aber seit 2002 in London zu Hause. Was empfinden Sie, wenn Sie erleben, wie in Großbritannien und in Mitteleuropa mit den Flüchtlingen umgegangen wird?

Guo Xiaolu: In lebe als chinesische Künstlerin in Europa im Exil. Ich habe in London, dann in Berlin, Hamburg und Paris gelebt, und jetzt bin ich Gastautorin in Zürich. Ich kann also in Europa leben, aber meine Situation ist immer noch die des Exils - was bedeutet, dass meine Werke nicht in China veröffentlicht werden können und dass ich aktuell auch nicht wirklich in China leben kann. Daher, wenn Sie von Flüchtlingen sprechen, dann ist mir dieses Thema alles andere als unvertraut. In meinem letzten Roman "Ich bin China" geht es sehr viel um identitätsloses Dahintreiben, jene vollkommene Entwurzelung und Trostlosigkeit, nachdem man seine Heimat verlassen musste.

Ich finde die Situation in Europa zurzeit unglaublich traurig, aber auch sehr interessant. Noch vor wenigen Monaten drehten sich die Diskussionen darum, ob die Europäische Union so wie bisher weiter existieren könnte. Es ging sogar um ein mögliches Ende dieser Union. Und jetzt sind da plötzlich all diese Flüchtlinge und es ereignen sich täglich neue Zwischenfälle. Jetzt dreht sich die Debatte nicht mehr nur um innereuropäische Themen, sondern um ein Europa ohne Grenzen. Es muss gehandelt werden - angesichts all dieser Bürgerkriege und Flüchtlinge, all dieser Fremden. Ich finde, dass Deutschland sich bisher ganz gut schlägt. Großbritannien hat sich bis jetzt äußerst zurückhaltend engagiert.

Länder wie Italien und Griechenland stehen den vielen Flüchtlingen aus Nordafrika noch viel näher gegenüber. Ich war erst vor kurzem in Italien und Griechenland, wo ich mitbekam, wie andauernd über die Flüchtlinge diskutiert wurde. Für die Regierungen ist es in gewisser Weise ein sehr großes Problem, mit ihnen umzugehen, und für die Gesellschaft ebenso. Aber intellektuell - und das sage ich sicherlich aus meiner Sicht als Autorin und Filmemacherin - intellektuell ist das sehr stimulierend für Europa. Europa, das immer so stolz war auf sein kulturelles Erbe, sieht sich durch diese neue Realität extrem herausgefordert. Aber das wird Europa zum Nachdenken bringen und das europäische Bewusstsein nachhaltig positiv verändern.

Die Dreharbeit "UFO in her eyes". Foto: Xiaolu Guo
Regisseurin Guo Xiaolu bei den Dreharbeiten zu "UFO in her eyes"Bild: Xiaolu Guo

Als Sie nach England kamen, haben Sie die Sprache sehr schnell erlernt. Inzwischen haben Sie schon vier Romane auf Englisch geschrieben. Sie sind jetzt eine englische Autorin, oder eine englisch-chinesische? Wie haben Sie diesen Transfer bewältigt?

Ich denke, dass ich Teil dieser globalen Migrationsbewegung bin, die in den letzten zehn Jahren - ja, nicht einmal zwanzig Jahren - entstanden ist: die globale Migration als Flucht vor Armut, Bürgerkriegen, politischer Verfolgung. Das hat nichts mehr mit der Kolonialzeit zu tun, als der reiche Westen nach Afrika ging, um der Dritten Welt den eigenen Organisationsplan einzupflanzen. Das ist jetzt eine ganz andere Situation.

Ich lernte Englisch aus reinem Überlebensinstinkt heraus. Wenn ich nicht in China publizieren und meine Stimme dort nicht gehört werden kann - was blieb mir dann anderes übrig? Ich musste die Kontrolle wiedererlangen, ich musste meine neue Sprache, das Englische, zu beherrschen lernen. Und ich musste in der Lage sein, Romane zu schreiben, denn zu schreiben, macht meine Identität als Autorin aus.

Andernfalls wäre ich im Westen nur ein Niemand, nur ein Flüchtling unter vielen. Und ich denke, das unterscheidet mich von anderen Migranten. Dabei geht es auch um die eigene Würde. Ein Migrant schafft es vielleicht noch aus Syrien heraus und kann in Berlin leben. Aber er wird nie seine Identität wiedererlangen, wird nie so sein, wie er in Syrien war, wenn er es nicht schafft, sich in Deutschland seine Würde zu erhalten. Und ich habe eben dieses Gefühl, dass ich ohne Stimme wäre, wenn ich nicht meine Arbeit im Westen weiterführen würde.

Stehen Sie viel in Kontakt mit anderen zugewanderten Autoren?

Ich glaube, vor allem in London ist das Konzept der Migranten-Autoren nicht so weit verbreitet wie in Mitteleuropa. Das liegt daran, dass die postkolonialen Schriftsteller, zum Beispiel Autoren aus Indien, immer auf Englisch geschrieben haben. Ich spreche natürlich von den Indern der Oberschicht, die schreiben immer auf Englisch. Oder die nigerianischen Autoren, die karibischen, auch die schreiben auf Englisch. Das ist alles sehr unscharf. Wenn man nach London blickt, da gibt es natürlich immer noch die postkoloniale Literatur und die Literatur neuer Migranten. Bei einem Schriftsteller wie V. S. Naipaul ist es sehr kompliziert - er hat beide Gesellschaften kritisiert. Natürlich ist seine kulturelle Identität der englischen sehr eng verbunden, aber da gibt es auch immer noch seinen indisch-karibischen Hintergrund - das ist sehr komplex.

Und ich habe das nicht. Sehen Sie, ich habe keine naturgegebene historische Verbindung wie diese zugewanderten Autoren, die fast alle aus den ehemaligen englischen Kolonialgebieten stammen. In mancher Hinsicht finde ich es ziemlich einsam, als Schriftstellerin aus China, die auf Englisch schreibt, in Großbritannien zu leben, denn ich teile diese Kolonialgeschichte in meinen Werken nicht. Es ist eine eigene Branche geworden, über diese Kolonialgeschichte zu schreiben, Werke, Familiensagas, die Bestseller werden, Bestseller für Menschen, die über ihnen Tränen vergießen und sich in der eigenen Schuld suhlen können. All das steht mir nicht zur Verfügung. Ich finde irgendwie, dass es gesünder ist, die Literatur von überall her mit offenen Armen aufzunehmen und jeden seine eigene Reise in die Welt bringen zu lassen.

Betrachten Sie sich selber als Dissidenten-Schriftstellerin - Ma Jian vergleichbar, der wie Sie in London lebt?

Das ist so - ich wurde in den 1970er-Jahren geboren und bin in den Achtzigern und Neunzigern aufgewachsen, einer Zeit, in der sich China dem Westen enorm geöffnet hat. Sich darauf zu beschränken, als Dissident zu schreiben, ist ein extrem trauriger und von seinen Möglichkeiten her begrenzter Zustand. Menschen wie Ma Jian, Liao Yiwu oder Ai Weiwei respektiere ich ungeheuer, aber sie sind 25 Jahre älter als ich, sie sind älter als es mein Vater war. Und diese Generation kann nicht anders leben. Sie kann nur politisch leben. Ohne politischen Kampf hat sie keine Identität. Genau das verkörpert Jian als Figur in meinem Roman "Ich bin China". Er kommt um, wenn es kein politisches Leben für ihn gibt. Deshalb muss er im Roman Selbstmord begehen.

Aber das ist ganz bestimmt nicht meine Generation. Ich gehöre zu einer neuen chinesischen Generation. Ich kann in beiden Sprachen schreiben. Nachdem ich China vor zehn Jahren verließ, habe ich in fünf verschiedenen Ländern gelebt. Und ich habe nicht das Gefühl, dass ich mich zur politischen Märtyrerin machen muss, um meine Identität zu bewahren. In gewisser Weise denke ich, dass ein wirklich großer Autor über den politischen Diskussionen steht. Meine Wunschvorstellung und mein Ehrgeiz mögen sein, als Bürgerin dieser Welt voll und ganz an den politischen Diskussionen teilzuhaben. Aber die Kunst sollte darüber hinausgehen, denn nur so kann sie länger bestehen.

Der Titel Ihres letzten Romans, "Ich bin China", ist außergewöhnlich. Er ist riesig. Können Sie erklären, warum Sie ihn gewählt haben?

Als ich den Roman begann, hatte ich vor, ihn einem meiner großen Helden zu widmen, Allen Ginsberg. Alle wunderten sich sehr darüber, dass ich von Ginsbergs Gedicht "America" aus dem Jahr 1956 so hingerissen war. Schon als Teenager kannte ich es bis auf den letzten Vers auswendig. Und dann gab es da noch diese komische kleine Hippie-Band in London, in der ich die Ukulele spielte. Bei jedem Auftritt performte ich eine Coverversion von Allen Ginsbergs "America".

Es gibt einen Vers in diesem Gedicht, der lautet: "It occurs to me that I am America", "Es wird mir klar, dass ich Amerika bin". Dieses Gedicht handelt von der Beziehung zwischen Staat und Individuum. Und das ist absolut keine gegenseitige Liebesbeziehung. Darin beutet der Staat vorrangig das Individuum aus, im Namen Amerikas. Und ich denke, das ist genau das, was in China passiert. Wir sind als Chinesen gefragt - aber wo existiert wirkliche Freiheit in China, für uns, als Chinesen? Ich finde, dieses Gedicht passt perfekt zu dem, was mit China los ist. Deshalb musste ich es am Ende meines Romans benutzen. Und ich musste den Titel "Ich bin China" benutzen, in Analogie zu "Ich bin Amerika" in Ginsbergs Gedicht.

Ihr Roman erschien genau am 25. Jahrestag des Tian'anmen-Massakers von 1989. Warum haben Sie dieses Datum gewählt?

Das war Sache des Verlags. Ich habe überhaupt kein Erscheinungsdatum gewählt. Es ist illusorisch zu glauben, ein Schriftsteller könnte in irgendeiner Weise beeinflussen, wann ein Buch erscheint oder welche Farbe der Schutzumschlag hat. Und das schließt selbst Nobelpreisträger ein, niemand hat da mitzureden, wenn es darum geht, wann ein Buch der Öffentlichkeit vorgestellt wird. Aber davon abgesehen, will ich nicht bestreiten, dass da auch eine gewisse Solidarität vorhanden war. In dem Buch geht es nicht um 1989, aber die darin enthaltenen Emotionen gehen auf dieses Jahr zurück. Das war das Jahr, in dem die ganze Welt nach Demokratisierung rief. In Deutschland wart ihr erfolgreich damit. In China sind wir gescheitert.

Ihrer Meinung nach gibt es, so war jedenfalls zu lesen, nicht nur eine politische, sondern auch eine kommerzielle Zensur. In welcher Weise hat diese kommerzielle Zensur Ihre Arbeit beeinträchtigt?

Ich kritisiere diese westliche Kommerzialisierung des Verlagswesens und der Filmbranche andauernd, da ich mit dieser Welt bei meiner Arbeit so eng verbunden bin. Ich habe viele Filme gemacht und alle meine Romane im Westen veröffentlicht. Jedes Mal streite ich mich mit meinen Verlagen herum, mit all den verschiedenen Verlagen, sei es der deutsche, englische oder amerikanische. Immer, wenn ich Änderungswünsche über Passagen, die sie nicht so mögen, mitgeteilt bekomme; Änderungswünsche, die nichts mit dem Buch an sich zu tun haben, sondern die auf den Markt schielen, dann kämpfe ich dagegen an. Ich versuche immer, mich zu schützen. Aber andererseits muss ich auch anerkennen, dass ich als Schriftstellerin in meiner Sekundärsprache schreibe, einer Sprache, die ich nie systematisch erlernt oder studiert habe. Umso erstaunlicher ist es, dass meine Verlage schon seit zehn Jahren zu mir halten, meine Texte redigiert und mir mit meinem fehlerhaften Englisch bei jedem einzelnen Buch geholfen haben - und das waren alles ziemlich komplizierte Bücher.

Was ich damit sagen will: Ich finde es absolut schrecklich, dass jeder Schriftsteller sich dieser kommerziellen Zensur unterwerfen muss. Aber ich denke auch, dass man das sogar zum eigenen Vorteil nutzen kann, wenn man nur ehrgeizig und stark genug ist. Ich selbst, ich nutze den Markt, aber ich weiß auch ganz klar, was ich niemals aufgeben würde. Da ich als Autorin im Exil bin, muss ich publiziert werden. Deshalb versuche ich auf jede erdenkliche Weise, meine Arbeit zu beschützen, indem ich sie veröffentliche.

Neben Ihrer Tätigkeit als Schriftstellerin machen Sie auch Filme. Sind Sie gegenwärtig auch noch mit einem Film beschäftigt?

In diesem Jahr nicht. Ich habe im vergangenen Jahr ein Kind bekommen, also konnte ich nicht so viel unterwegs sein. Ich war immer ziemlich schnell und effizient und habe jedes Jahr einen Film gemacht und einen Roman geschrieben. Aber dann hatte ich auf einmal ein Baby, und von da an ging alles viel langsamer (lacht). Und jetzt sage ich mir, was soll's, vielleicht geht es ja nächstes Jahr wieder schneller. Meine Tochter heißt Moon, wie Luna. Sie ist schon sehr bekannt, denn ich musste sie zu jedem Festival und zu jeder Lesung mitnehmen. Sie können sie in Berlin kennenlernen.

Guo Xiaolu, geb. 1973, studierte an der Filmakademie in Peking sowie an der National Film and TV School in London. Ihre Drehbücher wurden zwar prämiert, konnten allerdings wegen der Zensur in China nicht verfilmt werden. Sie arbeitete deshalb zunächst literarisch und publizierte mehrere erfolgreiche und vielfach übersetzte Romane. 2002 zog Guo nach London. In Europa realisierte sie neben ihrer Schriftstellerei mehrere Dokumentar- und Spielfilme, unter anderem mit Fatih Akin, die zu internationalen Festivals eingeladen wurden. Mit "A Concise Chinese-English Dictionary For Lovers" gab sie 2007 ihr Debüt in englischer Sprache (dt. "Kleines Wörterbuch für Liebende", 2008). Die Autorin war 2014 Gast des Berliner Künstlerprogramms des DAAD und ist noch bis November 2015 Writer in Residence des Literaturhauses Zürich.

"I am China" ist ihr vierter auf Englisch verfasster Roman. Die deutsche Übersetzung "Ich bin China" erschien im Sommer 2015. Der Briefroman über das Schicksal zweier für Freiheit kämpfenden Liebenden passt zum Themenschwerpunkt des Internationalen Literaturfestivals: Auch hier geht es um das Schicksal eines heimatlos gewordenen Flüchtlings und Asylsuchenden.

Die Autorin stellte ihren Roman beim Internationalen Literaturfestival in Berlin vor, das am 19.09.2015 endet.