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Gyaltsen: "Welt mit passiver Zuschauerrolle"

Cui Mu17. April 2015

Im jüngsten Weißbuch zur Tibet-Politik hat Peking Gesprächen mit Vertretern des Dalai Lama eine Absage erteilt. Die DW sprach mit dessen Europa-Beauftragtem Kelsang Gyaltsen über Lösungsmöglichkeiten.

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Kelsang Gyaltsen Repräsentant des Dalai Lama in Europa (Foto: picture-alliance/dpa).
Bild: picture-alliance/dpa

Deutsche Welle: Im jüngsten Weißbuch des chinesischen Staatsrats wird dem Dalai Lama vorgeworfen, die Unabhängigkeit Tibets zu betreiben. Die chinesische Regierung behauptet auch, dass die Situation im heutigem Tibet viel besser als vor Jahrzehnten sei. Enthält das Weißbuch vielleicht trotzdem Änderungen der chinesischen Tibet-Politik?

Kelsang Gyaltsen: Leider glaube ich das nicht. Zwar habe ich das Weißbuch noch nicht vollständig lesen können, aber das, was bislang darüber berichtet wird, lässt auf keine Änderung der chinesischen Tibet-Politik schließen, sondern vielmehr darauf, dass die chinesische Regierung an der bisherigen Linie ihrer Tibet-Politik festhalten will. Beispielweise wird erneut behauptet, dass der Dalai Lama und die Exiltibeter das alte System Tibets wiederstellen wollten. Das ist natürlich reine Rechtfertigungspropaganda für die Besetzung und Beherrschung Tibets durch China.

Hat China seine Tibet-Politik nach der Machtübernahme Xi Jinpings verschärft?

Es ist die einhellige Beobachtung und Schlussfolgerung von Menschenrechtsorganisationen und Beobachtern, dass die Unterdrückung und Überwachung in Tibet seit den großen Unruhen in Tibet in 2008 viel intensiver und schärfer geworden ist. Auch die Bewegungsfreiheit der tibetischen Bevölkerung ist seither sehr begrenzt.

Wie wird die tibetische Exilregierung auf das Weißbuch des chinesischen Staatsrates reagieren?

Unsere Bestrebung ist darauf ausgerichtet, wieder direkten Kontakt zur chinesischen Regierung zu knüpfen und in einen Dialog mit Chinas Führung einzutreten. An diesem politischen Kurs wird sich nichts ändern. Wir werden weiterhin alles in Bewegung setzen und alles tun, damit es zu einem direkten Kontakt und zu einem vernünftigen Dialog mit der chinesischen Führung kommt.

Xi Jinping in Berlin Tibet Demo 28.03.2014
Gyaltsen: Deutschland oder EU sollten Vermittlerrolle übernehmenBild: Reuters

Sie sprechen viel vom Dialogversuch. Aber gleichzeitig schlägt die chinesische Regierung einen schärferen Ton an. Versuchen Sie nicht auch, mehr Druck auf die chinesische Regierung auszuüben?

Man muss zur Kenntnis nehmen, dass einerseits die Unterdrückung durch die chinesische Regierung seit 2008 massiv zugenommen hat. Aber andererseits ist auch der gewaltlose Widerstand der Tibeter in Tibet so stark und weit verbreitet wie nie zuvor. Was mich sehr überrascht und betroffen macht, ist, dass die Weltöffentlichkeit wenig Kenntnis davon nimmt, dass sich seit 2011 aus Protest gegen die Unterdrückung der chinesischen Regierung 136 Tibeterinnen und Tibeter verbrannt haben. Der jüngste tragische Fall hat vor einer Woche, am 8. April, stattgefunden.

Die Intention der 136 Tibeter war es ganz offensichtlich, einen Wechsel der chinesischen Tibet-Politik herbeizuführen, ohne dabei Chinesen zu schädigen oder gar zu töten. In diesem Sinne handelte es sich für uns Tibeter um gewaltlosen Protest. Diese Selbstverbrennungsproteste sind nur die Spitze des Eisberges von vielfältigen gewaltlosen Widerstandsformen, die heute in Tibet praktiziert werden. Aufgrund dieser Situation fühlt sich Chinas Regierung stark verunsichert, was ihre Position in Tibet betrifft. Deshalb greift sie zu noch mehr Unterdrückung und staatlicher Gewalt, anstatt in einen Dialog mit Tibetern zu treten und eine friedliche und einvernehmliche Lösung zu suchen.

Chinesische Medien werfen vor den Tibetern vor, dass die Selbstverbrennungen alles andere als "gewaltlose Proteste" seien. Im Weißbuch steht, dass der Dalai Lama die Selbstverbrennungen angestiftet hätte.

Die tibetische Exilführung hat wiederholt an die Tibeter in Tibet appelliert, nicht zu solchen drastischen Protesten zu greifen, weil jedes Leben wichtig ist. Ob eine Tat gewalttätig oder gewaltfrei ist, hängt im Buddhismus entscheidet von der Motivation ab. Wenn man aus Wut, Zorn oder Hass eine Tat begeht, dann ist sie gewalttätig. Aber in den vorliegenden Selbstverbrennungsfällen wollten die "Täter" keine Mitmenschen schädigen oder töten, sondern nur einen Wechsel der chinesischen Tibet-Politik herbeiführen, damit das tibetische Volk mit seiner eigenständigen Kultur, Religion und Sprache überleben kann. Hier kann man nicht von gewalttätigen Protesten sprechen.

Was Chinas Anschuldigung betrifft, dass der Dalai Lama und die tibetische Exilführung diese Proteste angestiftet hätten, so sind sie aberwitzig und haltlos. Wir haben immer gefordert, dass eine unabhängige internationale Beobachtergruppe nach Tibet einreisen und dort die tragischen Selbstverbrennungsfälle gründlich untersuchen soll. Aber wie allgemein bekannt ist, lässt die chinesische Regierung nur sehr selten Diplomaten, Menschenrechtsorganisationen oder Journalisten nach Tibet einreisen. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wer die chinesischen Anschuldigungen und Behauptungen überprüfen soll. Im Falle der Ukraine werden Präsident Putins Aussagen von vielen westlichen Regierungen und Medien kritisch hinterfragt und auch widerlegt. Aber Chinas Anschuldigungen und Lügen über den Dalai Lama und zu Tibet werden von niemanden beanstandet.

Laut chinesischem Weißbuch streben der Dalai Lama und die Exiltibeter nach Unabhängigkeit für Tibet. Der Dalai Lama betont dagegen immer wieder, dass er den sogenannten "mittleren Weg" gehen will. Chinas Führung meint aber, das sei nur ein Ablenkungsmanöver.

Hier kommen wir zu einem Kernproblem im chinesisch-tibetischen Konflikt: Das tiefe gegenseitige Misstrauen. Obwohl der Dalai Lama und die tibetische Führung im Exil seit Jahrzehnten öffentlich erklären, dass wir keine Abtrennung und Unabhängigkeit Tibets anstreben, sondern eine echte Autonomie im Rahmen der Volksrepublik China, fährt die chinesische Regierung fort, uns vorzuwerfen, eine "hidden agenda" zu haben und letztendlich die Unabhängigkeit anzustreben.

Wir sind der Meinung, dass die chinesische Führung nicht den politischen Willen aufbringt, eine friedliche Lösung des Tibet-Problems zu suchen. Auf der anderen Seite wirft die chinesische Regierung uns vor, dass wir die Unabhängigkeit anstreben. Es ist offensichtlich, dass diese Kluft zwischen Tibetern und der chinesischen Regierung nur mit Hilfe einer dritten Partei überbrückt werden kann. Hier ist jetzt die Hilfe und Intervention der internationalen Gemeinschaft gefragt. Eine dritte Partei muss als Vermittler und Garant in diesem Konflikt auftreten. Die deutsche Bundesregierung oder die europäische Union könnten diese Rolle übernehmen.

Die internationale Gemeinschaft darf nicht länger eine passive Zuschauerin der Tragödie auf dem Dach der Welt bleiben. Ich wiederhole: die einzige Möglichkeit, das Misstrauen zu überwinden, ist, dass eine dritte Partei vermittelt und garantiert, dass die beiden Seiten zu den Aussagen, die sie gemacht haben, stehen.