UN-Truppen verlassen Haiti
15. Oktober 2017Als Anne Lange zum ersten Mal nach Haiti reiste, kannte sie bereits einige Länder Lateinamerikas. Doch der Zustand des Karibikstaates erschütterte sie: "Haiti war ein absolut kaputtes Land - auch im Vergleich zu anderen Ländern der Region", sagt sie. "Ein Großteil der Bevölkerung kämpfte buchstäblich ums Überleben, die staatlichen Institutionen funktionierten nicht, und auch das Land selbst, also der Boden, war völlig ausgelaugt von Jahrzehnte langer Monokultur."
Lange ist Politologin an der Universität Potsdam. Ende 2014 und im Frühjahr 2015 hat sie Haiti bereist, um Feldforschungen für ihre Doktorarbeit über Entscheidungsprozesse zwischen UN-Organen und internationalen Akteuren durchzuführen. Zu diesem Zeitpunkt lief die Stabilisierungsmission der Vereinten Nationen in Haiti (MINUSTAH) bereits seit mehr als zehn Jahren. Größere Fortschritte wurden seither nicht mehr berichtet. Im Gegenteil: 2016 warf Hurrikan Matthew die Entwicklung des Landes erneut zurück.
Nun läuft das UN-Mandat aus: Am 15. Oktober verlassen die letzten Blauhelm-Soldaten das Land. Und nicht wenige finden es besser so.
Befreier oder Besatzer?
Rückblick: Nach dem Staatsstreich gegen Präsident Jean-Bertrand Aristide Anfang 2004 drohte Haiti im Chaos zu versinken. Auf Initiative der USA, wo man einen Exodus gen Norden fürchtete, entsandte der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen 6700 Blauhelme, 1600 Polizisten und 1700 weitere zivile Helfer und Diplomaten, um die Übergangsregierung zu unterstützen, den Frieden zu sichern, und Neuwahlen zu organisieren.
Doch trotz, oder gerade wegen des großen Kontingents hatte es MINUSTAH von Anfang schwer. Es mangelte an Rückhalt bei den Haitianern: "Seit ihrem Beginn im Juni 2004 war die Präsenz von MINUSTAH in Haiti problematisch, sogar spaltend", schreiben Jorge Heine und Andrew S. Thompson in ihrer Einleitung zum Sammelband "Fixing Haiti". Und auch der kanadische Politologe Nicolas Lemay-Hébert von der britischen Universität Birmingham schreibt: "Viele Haitianer sahen in MINUSTAH internationale Besatzung."
Reihenweise Verfehlungen
Handelte es sich zunächst eher um intuitive Ressentiments, fanden Gegner der Mission sehr bald handfeste Gründe, ihre Legitimität anzuzweifeln. Ein initiales Ereignis war wenige Monate nach Beginn der Einsatz im berüchtigten Slum Cité Soleil am Rande der Hauptstadt Port-au-Prince. Blauhelmsoldaten unter brasilianischer Führung sollen dort brutal gegen kriminelle Banden, aber auch gegen Anhänger des gestürzten Präsidenten und sogar gegen Unbeteiligte vorgegangen sein. "Dieser Vorfall ist noch heute sehr präsent, wenn Haitianer die UN kritisieren", berichtet Politologin Lange aus ihren Forschungsinterviews vor Ort.
Im Laufe der Mission nährte eine Reihe von Übergriffen das Misstrauen. Mehrfach haben UN-Soldaten Einheimische erwiesenermaßen vergewaltigt und sich am sexuellen Missbrauch und der Prostitution Minderjähriger beteiligt. "Jeder Skandal hat das Narrativ von einem besetzten Haiti und die latente Feindseligkeit gegenüber den internationalen Truppen verstärkt", sagt der Kanadier Lemay-Hébert.
Beispiellose Panne
Der Super-GAU ereignete sich 2010. Die UN hatte das auslaufende Mandat nach dem verheerenden Erdbeben im Januar noch einmal verlängert und ihre Kontingente sogar aufgestockt. Dann, im Oktober, brach eine Cholera-Epidemie aus. Mindestens 600.000 Menschen erkrankten, zwischen 8000 und 10.000 starben.
Bereits kurz nach Ausbruch der Seuche kam der Verdacht auf, dass der Erreger aus dem Camp nepalesischer Blauhelme stammte. Doch obwohl ein Jahr später eine von der UN beauftragte Kommission den Verdacht bestätigte und andere Experten zu dem Schluss kamen, der Ausbruch hätte durch einfache Prävention verhindert werden können, hat die UN ihre Schuld bis heute nicht anerkannt. "Die UN hat immer die prekären Hygieneverhältnisse in Haiti angeführt, um sich aus der Verantwortung zu ziehen", sagt Lemay-Hébert.
Erst Ende 2016 entschuldigte sich der scheidende UN-Generalsekretär Ban Ki Moon vage für die "Rolle" der Vereinten Nationen in der Tragödie und stellte Reparationen in Aussicht. Wie hoch und in welcher Form sie ausfallen werden, steht allerdings bis heute nicht fest. Die vollen 2,2 Milliarden US-Dollar, auf die Opferverbände die UN 2013 in New York verklagt hatten, werden es sicher nicht. Und auch eine individuelle Entschädigung, wie die Opfer sie verlangen, hält Lemay-Hébert für unwahrscheinlich.
Durchwachsene Bilanz
Sollte sich die UN irgendwann entschließen, Reparationen für die Cholera-Epidemie zu zahlen, würde das Geld wohl kollektiv verwaltet und in den Bau von Schulen und Krankenhäuser fließen. Doch die wären in dem "völlig kaputten Land" nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Denn was Haiti fehlt, da sind sich der Lemay-Hébert und Lange einig, sind ein funktionierendes Justizwesen, politische Stabilität und - immer noch - Sicherheit: "Ja, ich habe Polizei gesehen", berichtet die Deutsche, "aber sicher ist es eigentlich nur dort, wo Diplomaten oder ausländische Organisationen stationiert sind." Viel positiver klingt es auch bei ihrem kanadischen Kollegen nicht: "Ohne die Blauhelme wäre die Übergangsregierung wohl der Gewaltwelle nach dem Staatsstreich zum Opfer gefallen." Die langfristige, strukturelle Stabilisierung aber sei weitgehend fehlgeschlagen. Immerhin sei die Polizei heute besser aufgestellt als noch vor einigen Jahren.
Ungewollte Nebeneffekte
Was nun folgen muss, sagt Lemay-Hébert, sei ein Umdenken bei den Vereinten Nationen. MINUSTAH habe gezeigt, dass bei Friedenseinsätzen "mehr" nicht gleich "besser" bedeute.
Die "ungewollten Konsequenzen von Friedenseinsätzen und Entwicklungshilfe", die der Kanadier an der britischen Universität Birmingham erforscht, seien in MINUSTAH so offen zu Tage getreten wie in keiner anderen UN-Mission. Man müsse nun genau untersuchen, wie sich die tausendfache Anwesenheit von UN-Personal und Nichtregierungsorganisationen auf die lokale Bevölkerung auswirken: Steigende Immobilienpreise in Port-au-Prince sind schon heute Realität. Ein Braindrain stehe dem Land noch bevor: "Wenn die humanitäre Karawane erst einmal weiterzieht", sagt Lemay-Hébert, "werden die gebildeten Haitianer, die in den Projekten mitgearbeitet haben, das Land in Scharen verlassen."
Wenn so etwas wie ein MINUSTAH-Vermächtnis gibt, ist Lemay-Hébert überzeugt, dann dieses: "MINUSTAH hat die UN gezwungen, völlig neu über die ungewollten Konsequenzen von Friedensmissionen zu diskutieren."