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PolitikIsrael

Israel und Deutschlands Staatsräson: Was bedeutet das?

16. Oktober 2023

Die Sicherheit Israels sei "Staatsräson", betonen Politiker in Deutschland seit dem brutalen Überraschungsangriff der Hamas auf Israel. Der Erklärungsdruck steigt, wie diese Staatsräson konkret aussehen soll.

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Brandenburger Tor wird mit israelischer Flagge angestrahlt
Als Solidaritätsbekundung wurde die israelische Flagge auf das Brandenburger Tor projiziertBild: Fabian Sommer/dpa/picture alliance

Für Deutschland ist die Vergangenheit immer gegenwärtig: Der Völkermord an den europäischen Juden in der Zeit des Nationalsozialismus hat bis heute tiefgreifende Auswirkungen auf das Land und die Gesellschaft, beeinflusst Politik und prägt Deutschlands Sicht auf die Welt.

Gegenüber Israel, das von der zionistischen Bewegung nur drei Jahre nach der systematischen Ermordung von sechs Millionen Juden im Holocaust als jüdischer Staat gegründet wurde, sieht der deutsche Staat eine "besondere Verantwortung". Das Engagement für Israel ist mehr als nur ein politisches Ziel, es ist ein elementarer Bestandteil des Selbstverständnisses deutscher Politik.

Das macht Israels Sicherheit und Existenz zur "Staatsräson" Deutschlands. Die frühere Bundeskanzlerin Angela Merkel hat diesen Begriff bereits 2008 in ihrer Rede vor der Knesset, dem israelischen Parlament, verwendet. Ihr Nachfolger Olaf Scholz hat ihn seit dem brutalen Überraschungsangriff der Hamas mit Hunderten Toten Israelis wiederholt.

"In diesem Moment gibt es für Deutschland nur einen Platz. Den Platz an der Seite Israels. Das meinen wir, wenn wir sagen: Die Sicherheit Israels ist deutsche Staatsräson", sagte Bundeskanzler Olaf Scholz in seiner Regierungserklärung. Konkret bedeutet dies, dass Deutschland, wie andere Verbündete auch, Israels Recht auf Selbstverteidigung und die daraus folgenden Maßnahmen im Gazastreifen unterstützt.

Staatsräson - "nie in Deutschland ausbuchstabiert worden"

Wie jeder Staat hat auch Israel das Recht, sich im Rahmen des Völkerrechts gegen Angriffe zu verteidigen. Das erkennt nicht nur Deutschland an. Doch mit "Staatsräson" wählen deutsche Politiker eine besondere Bezeichnung, die viel Spielraum für Interpretationen lässt.

"Es ist nie in Deutschland ausbuchstabiert worden, was das heißt" erklärt der Militärexperte Carlo Masala, Professor an der Universität der Bundeswehr in München. "Wenn man es wirklich ernst meint, dass das Teil der deutschen Staatsräson ist, dann hat das moralisch, politisch eine Art Verfassungsrang. Dann bedeutet das, in dem Moment, wo die Existenz Israels auf dem Spiel steht, müsste Deutschland bereit sein, aktiv Israel zu verteidigen. Das ist die logische Konsequenz."

Die "Staatsräson" ist ein Konzept aus der Rechtstheorie und der internationalen Politik, das sich im Laufe der Jahrhunderte im westlichen politischen Denken entwickelt hat, als sich die Rolle, die Rechte und die Befugnisse von modernen Staaten herausbildeten. Man versteht unter "Staatsräson" den Grundsatz, wonach ein Staat berechtigt ist, sich bei der Rechtfertigung der eigenen Außenpolitik darauf zu berufen, dass die Eigeninteressen der Nation Vorrang haben.

Komplexer Sachverhalt vereinfacht dargestellt

"Staatsräson gibt staatlichen Interessen Vorrang vor anderen Werten", sagt Marietta Auer, geschäftsführende Direktorin des Max-Planck-Instituts für Rechtsgeschichte und Rechtstheorie, zur DW. Sie warnt, der Schutz des Staates Israel könnte sich als ein Wert herausstellen, der andere deutsche Interessen konterkarieren könnte.

Angela Merkel 2008 Rede vor Knesset
Angela Merkel spricht am 18.März 2008 in der Knesset in JerusalemBild: AP

Als Angela Merkel 2008 in der Knesset die "Staatsräson" beschwor, meint Auer, mag es eine wackelige juristische Theorie gewesen sein, aber ein kluger politischer Schachzug, eine vereinfachte Darstellung eines komplexen Sachverhaltes. "Ich muss (sämtliche Gründe) als Regierungsoberhaupt nicht offenlegen", erklärt Auer. "Wenn ich sage, das ist im Interesse des Staates, dann ist das so. Punkt."

Indem eine Regierungschefin oder ein Regierungschef die deutsche Position zu Israel zur "Staatsräson" erhebe, gelinge es ihr oder ihm, die Debatte zu beenden, meint auch Klaus Dieter Wolf, ehemaliger Professor für Internationale Beziehungen an der Technischen Universität Darmstadt im DW-Interview. "Ich erkläre eine bestimmte konkrete politische Absicht zur 'Staatsräson', um sie unangreifbar für Widerspruch zu machen", sagte Wolf, der über die Auswirkungen der "Staatsräson" geschrieben hat.

Mögliche Kollision der deutschen "Staatsräson" mit dem Völkerrecht

Die Anwendung der "Staatsräson" gibt einem staatlichen Interesse Vorrang – was wiederum mit dem Völkerrecht kollidieren könnte. "Im Völkerrecht gibt es keine Hierarchie", sagte Joost Hiltermann, der MENA-Programmdirektor der International Crisis Group, im Gespräch mit der DW. "Was auch immer Deutschland über sein intrinsisches Recht sagen mag, an der Seite Israels zu stehen, entbindet es nicht von seiner Verantwortung, das humanitäre Völkerrecht, das die Mittel der Kriegsführung regelt, zu beachten und dafür einzutreten."

Raketeneinschlag In Rafah im südlichen Gazastreifen
Raketeneinschlag in Rafah im südlichen Gazastreifen am 15.Oktober 2023Bild: Said Khatib/AFP

Würde Israel bei der Verfolgung seiner Sicherheitsinteressen gegen das Völkerrecht verstoßen, geriete Deutschland schnell in eine schwierige rechtliche Situation. Bundeskanzler Olaf Scholz hat wiederholt deutlich gemacht, dass sich Israel an internationales Recht halten muss. 

Der Text ist eine Adaption aus dem Englischen. Er wurde am 16.10.2023 erstmals veröffentlicht und um eine Präzisierung der Position der Bundesregierung aktualisiert.