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Hanau: "Tiefste Trauer und Sprachlosigkeit"

20. Februar 2020

Der Pianist Igor Levit war einer der ersten, die auf die Bluttat von Hanau reagierten. Der Anschlag war offenkundig politisch motiviert, wie ein Bekennerschreiben nahelegt. Nicht nur die Kulturwelt reagiert erschüttert.

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Deutschland Hanau | Schießerei & Tote, Angriff auf Shisha-Bars | Trauer, Kerzen
Bild: Getty Images/AFP/T. Lohnes

Vor seiner Tat verfasste Tobias R., der mutmaßliche Schütze von Hanau, ein 24-seitiges Traktat und ein Video. Der Inhalt sei "rassistisch-wirr", schreibt das Newsportal "Zeit Online". Die meisten Opfer der Schießerei starben in einer Shisha-Bar im hessischen Hanau unweit von Frankfurt/Main. Das hatte Spekulationen über rechtsextreme Motive des Täters angeheizt. Bereits in der Nacht entbrannten in den sozialen Netzwerken Debatten. Am Morgen schrieb der russisch-deutsche Pianist Igor Levit auf Twitter: 

Levit meldete sich auf Twitter schon mehrfach mit politischen Äußerungen zu Wort. Darin wendet er sich unter anderem gegen Antisemitismus und Ausgrenzung Geflüchteter. Im Jahr 2014 wurde Levit mit einem Echo Klassik ausgezeichnet. Aus Protest gegen die Auszeichnung der Rapper Farid Bang und Kollegah mit dem "Echo"-Preis 2018 gab Levit, der aus einer jüdischen Familie stammt, seinen Echo zurück und erklärte: "Antisemitischen Parolen eine solche Plattform und Auszeichnungen zu geben, ist unerträglich." Mitte November 2019 erhielt er eine E-Mail mit einer Morddrohung. Daraufhin veröffentlichte er Ende Dezember 2019 in der Berliner Zeitung "Tagesspiegel" einen Gastbeitrag unter dem Titel "Habe ich Angst? - Ja, aber nicht um mich."  2019 unterstützte er Fridays for Future mit seinem Klavierspiel auf der Straße.

Pianist Igor Levit am Piano
Der Pianist Igor Levit ist ein Freund klarer Worte gegen Hass und Hetze Bild: Peter Adamik

Rassistisch und verwirrt

Unterdessen twitterte der Politikwissenschaftler und Terrorexperte Peter Neumann eine Kurzanalyse des 24-seitigen Manifests des Angreifers: "Dem Text zufolge glaubte der Mann an die Überlegenheit einer weißen Rasse und plädierte für die Auslöschung ganzer, mehrheitlich muslimischer Länder." Der Mann scheine sehr verwirrt gewesen zu sein, so Neumann, der auch Gründungsdirektor des "Internationalen Zentrums für die Erforschung von Radikalisierung und politischer Gewalt" am Londoner King's College ist, einer nichtstaatlichen Denkfabrik.

Eine "Tragödie" nennt der Berliner Filmexperte und Youtube-Star Robert Hofmann die Ereignisse von Hanau. Sollten sich die Berichte über einen rechtsextremen Hintergrund der Tat bestätigen, so Hofmann auf DW-Anfrage, wäre das "schlicht Scheiße."

Berlinale: "für Respekt, Offenheit und Gastfreundschaft"

Die 70. Berliner Filmfestspiele begannen am Donnerstagabend mit einer Schweigeminute für die Opfer der Gewalttat. Mariette Rissenbeek, Geschäftsführerin des Festivals, stellte klar: "Die Berlinale wendet sich wirklich gegen Gewalt, gegen Rassismus." Sie stehe für Freiheit, Toleranz, Respekt, Offenheit und Gastfreundschaft.

Kulturstaatsministerin Monika Grütters sagte bei der Eröffnungsgala: "Nie wieder sollten Menschen wegen ihrer Religion, ihrer Herkunft oder ihrer Hautfarbe in Deutschland um ihr Leben fürchten müssen." Die Wirklichkeit sehe aber anders aus, "nicht zuletzt weil neue politische Kräfte nationalsozialistische Verbrechen relativieren und mit Hetzparolen Ressentiments schüren". 

"Was, wenn der Täter nicht Tobias R, sondern Ali B. geheißen hätte", fragen viele User in den sozialen Netzwerken. "Stellt Euch den Medienrummel vor", schreibt etwa der in Schweden lehrende Friedens- und Konfliktforscher Ashok Swain unter dem Hashtag #HanauShooting, "wenn es nicht ein rechtsextremer, sondern ein muslimischer Terrorist gewesenen wäre!" Ein anderer User stellt Hanau in eine Reihe mit Halle und Christchurch, wo zuvor ebenfalls Rechtsextreme Anschläge verübten: "Ein weiterer Terrorist voller Hass und rassistischen Gefühlen hat unschuldige Menschen auf dem Gewissen, deren einziges Verbrechen war, als Nicht-Weiße in Deutschland geboren zu sein."

Tat war "nicht fremdenfeindlich"

Niko Mertens, ein Mainzer Kommunalpolitiker mit Migrationshintergrund, weist in einem Tweet darauf hin, dass es falsch sei, von einem "fremdenfeindlichen Motiv" zu reden. Die Opfer seien "Teil einer Gesellschaft, die sie nicht schützen kann!" Die Journalistin Teresa Bücker schreibt: "Rechter Terror greift gezielt bestimmte Menschen an, motiviert von Rassismus. Wäre es ein Angriff auf uns alle, würde nicht jedes Mal so schnell zur Tagesordnung übergegangen." Der Youtuber Rezo, bekannt geworden durch sein Video "Die Zerstörung der CDU",  fragt ebenfalls auf Twitter: "Ernsthaft, wann gehen wir das Problem mit rechtem Terror mal richtig an?"

Schock für Karnevalisten

Überschattet von der Gewalttat in Hanau hat in den närrischen Hochburgen Deutschlands um 11.11 Uhr der Straßenkarneval begonnen. In vielen Städten stürmten die Frauen die Rathäuser. Im hessischen Hanau  wird der traditionelle Faschingsumzug am Samstag abgesagt. Das teilte der Veranstalter, der Hanauer Carnevalszug Verein 1954, auf seiner Facebookseite mit. "Wir drücken hiermit den Hinterbliebenen der Opfer unser tiefstes Mitgefühl aus!", schreibt der Verein.

Weiberfastnacht - Schweigeminute in Köln zu Gedenken der Opfer in Hanau
Schweigeminute der Kölner KarnevalistenBild: picture-alliance/dpa/O. Berg

In Köln sagte Karnevalspräsident Christoph Kuckelkorn: "Im Leben und im Karneval sind die Momente der überschäumenden Freude und des Feierns und die der Trauer immer nah beieinander. Heute überwiegt bei uns allen, glaube ich, die Fassungslosigkeit." Bevor die Kölner Karnevalisten den Straßenkarneval um 11.11 Uhr offiziell eröffneten, gedachten sie der Opfer von Hanau mit einem Schweigemoment.

DW-Intendant Peter Limbourg
DW-Intendant Peter Limbourg (Archivbild)Bild: DW/P. Böll

Aus Respekt vor den Opfern des Terroranschlags in Hanau sagte die Deutsche Welle (DW) ihren für Freitag geplanten Internationalen Karnevalsempfang im Bonner Funkhaus ab. "Der rassistischeTerroranschlag von Hanau ist eine unfassbare Tat", erklärte DW-Intendant Peter Limbourg. "Wir können nicht feiern, wenn andere trauern."

 

In einer früheren Version des Artikels hieß es: "Von der am Donnerstagabend beginnenden 70. Berlinale, einem der weltweit bedeutendsten Filmfestspiele, gab es bisher keine Einschätzungen zu der Bluttat." Nach Beginn der Berlinale haben wir den Artikel mit Informationen zur Eröffnungsgala ergänzt.