Hans Georg Calmeyer: Held oder NS-Mittäter?
15. Juli 2020Darf ein Mann, der für die Nationalsozialisten zunächst als Soldat und später als Anwalt in den besetzten Niederlanden agierte, der vielen Juden dort das Leben rettete, aber in vielen Fällen auch dazu beitrug, dass Menschen in die Konzentrationslager deportiert wurden, darf ein solcher Mann heute noch geehrt werden? Indem man ein Museum nach ihm benennt? Um diese Frage gibt es in der Stadt Osnabrück in Niedersachen derzeit heftige Debatten. So heftig, dass eine Entscheidung erst einmal vertagt wurde.
Calmeyer entschied, wer Jude war und wer nicht
Es geht um Hans Georg Calmeyer, einen Juristen, der 1903 geboren wurde und 1972 starb. Schon als junger Anwalt erweckte Calmeyer den Argwohn der Nationalsozialisten, weil er auch Kommunisten verteidigte. Später, in den Niederlanden, erhielt er als Jurist die Aufgabe, im "Reichskommissariat für die besetzten niederländischen Gebiete" zu entscheiden, ob jemand Jude war oder nicht. Dabei ließ er Beweismittel zu, die im Deutschen Reich verboten waren. Und er erklärte nach dem Krieg, er habe stets gewusst, dass die Menschen ihn belogen, sich etwa als Arier ausgaben. Nach Schätzungen gelang es ihm so, bis zu 3000 Juden zu retten.
Aber er lehnte auch Anträge ab und war damit mitverantwortlich dafür, dass rund 1500 Juden deportiert wurden. Nach dem Krieg erklärte er: "Dass meine Landsleute mich nicht begriffen, war für mich nichts Neues. Und die Niederländer, auf deren Verständnis ich angewiesen war - sollte das Ziel nicht in Gefahr gebracht werden, sie begriffen nicht, dass ich auch einmal nein sagen musste, dass ich den guten Willen, den leidenschaftlichen guten Willen, immer nur in den Grenzen des Möglichen, gezügelt durch kühlen Verstand, gebrauchen konnte."
Held oder Mittäter? Ein Humanist, tief verstrickt in das Unrecht des NS-Regimes? 1992 war Calmeyer posthum für sein Wirken von der Gedenkstätte Yad Vashem im Israel zum "Gerechten unter den Völkern" erklärt worden, eine der höchsten Auszeichnungen in Israel.
"Der erfolgreichste Judenretter Deutschlands!"
2014 entschied die Stadt Osnabrück, in der Calmeyer geboren wurde, ein Museum zu errichten, in dem das Leben Calmeyers kritisch gewürdigt werden sollte. Und zwar in einer Villa, in der früher die NSDAP-Zentrale untergebracht war. Der Beschluss wurde damals von allen Parteien in Osnabrück mitgetragen. Trotzdem gibt es jetzt Streit.
In der Stadt selbst wirbt eine Initiative dafür, das Museum, wenn es denn fertig ist, nach Calmeyer zu benennen. Joachim Castan, der stellvertretende Vorsitzender der Calmeyer-Initiative, sagt: "Es wäre ein großer Pluspunkt für Osnabrück, wenn man das Haus so nennen würde, wenn man den erfolgreichsten Judenretter Deutschlands in die ehemalige NSDAP-Parteizentrale packen würde. Das wäre ein guter Wink der Geschichte."
Kritik aus den Niederlanden
Ganz anders sieht das eine Initiative aus den Niederlanden. Hunderte Künstler, Wissenschaftler, auch Überlebende des Holocaust, wollen erreichen, dass das Haus nicht nach Calmeyer benannt wird. In einer Petition an die Bundesregierung und in einem offenen Brief an Bundeskanzlerin Angela Merkel kritisieren sie auch, dass der Bund für die Sanierung des Gebäudes bereits 1,7 Millionen Euro bewilligt hat.
Johannes Max van Ophuijsen, Philosophieprofessor aus den Niederlanden, ist einer der Unterzeichner. Er sagte der DW: "Solange die lokalen Politiker dort das Sagen haben, werden sie diese geschichtliche Figur eigentlich immer als eine Art örtlichen Held verehren. Wenn aber ein internationales Publikum auf den Fall schaut, hat Calmeyer weniger Chancen, als Held durchzugehen. Er ist kein zweiter Oskar Schindler. Er war einfach ein relativ anständiger, relativ human Handelnder innerhalb des Besatzungsregimes."
2023 soll das Museum eröffnet werden, unter welchen Namen, das wurde in dieser Woche bei einem Treffen von Politikern, Wissenschaftler, auch von Abgesandten der Kritiker aus den Niederlanden in Osnabrück erst einmal vertagt.
Mathias Middelberg (CDU) kann die Kritiker verstehen
Mit dabei war auch Mathias Middelberg, CDU-Bundestagsabgeordneter aus Osnabrück, der über Calmeyer ein Buch veröffentlicht hat. Middelberg kann, auch wenn er Calmeyers Wirken eher positiv sieht, trotzdem gut verstehen, wenn Opfer oder ihre Hinterbliebenen das anders sehen und gegen die Namensnennung votieren. Middelberg sagte der DW: "Ja, dafür kann ich Verständnis entwickeln, weil Calmeyer ja nicht alle, die bei ihm einen Antrag gestellt haben, gerettet hat. Er konnte nicht alle umschreiben, denn hätte er alle umgeschrieben, dann wäre das sehr schnell auffällig geworden."
Der wissenschaftliche Beirat, der die Stadt bei der konkreten Ausgestaltung des Museums berät, wird von Alfons Kenkmann geleitet, einem Professor für Geschichtsdidaktik an der Universität in Leipzig. Kenkmann sagt über Calmeyer: "Er hat bei der Judenrettung Großes geleistet und hat gleichzeitig die deutsche Besatzungsbürokratie aufrechterhalten und gefördert. Das ist die Ambivalenz seiner Figur."
Berthold Beitz und Oskar Schindler
Middelberg sieht das ähnlich und erinnert an andere Personen, die auch nach dem Krieg für ihre Rettungstaten geehrt wurden, an Oskar Schindler etwa oder an Berthold Beitz. Beitz, später einer der führenden Wirtschaftsgrößen der neuen Bundesrepublik. Er war während der NS-Zeit im heutigen Polen Manager in der Ölindustrie und rettete zahlreiche Juden, indem er sie bei sich beschäftigte. Ein Teil des Systems war er dennoch. Middelberg sagt der DW: "Sein Öl sorgte dafür, dass die deutschen Panzer gen Osten rollen konnten."
Oskar Schindler betrieb eine Munitionsfabrik in der Nähe von Krakau. Auch er beschäftigte viele Juden und rettete sie so. Schindler war aber auch Mitglied des NSDAP und ebenfalls ein Rad im System.
"Es gibt nicht nur Schwarz und Weiß."
Middelberg findet daher, gerade jungen Leuten müsste das Museum, wenn es denn einmal eröffnet, diese Ambivalenz verdeutlichen, die immer entstehe, wenn man sich in einer Diktatur oder im Krieg anständig verhalten wolle. "Dafür ist Calmeyer schon ein Beispiel, deswegen muss er in dem Museum stattfinden. Es ist wichtig, dass auch junge Menschen lernen, dass es nicht nur Schwarz und Weiß gibt."
Alle Beteiligten wollen nun unter anderem mit Hilfe der Gedenkstätte Yad Vashem noch einmal Informationen über Calmeyer sammeln. Und ein Symposium soll danach Klarheit bringen, ob das neue Museum, an dessen Sinn niemand zweifelt, tatsächlich nach Calmeyer benannt werden kann - oder nicht.