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Heimat-Debatte: "Misslungene Symbolpolitik"

Klaus Krämer
26. März 2018

Was ist eigentlich Heimat? "Ein Ort, wo man sein kann, ohne sich rechtfertigen zu müssen, dass man da ist", sagt der Soziologe Armin Nassehi im DW-Interview und erklärt zugleich, warum Heimatministerien Unsinn sind.

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Armin Nassehi
Bild: picture-alliance/dpa/A. Dedert

Spätestens seit im Jahr 2015 hunderttausende Geflüchtete über die europäischen Grenzen kamen, wird der Begriff "Heimat" zunehmend scharf diskutiert - an Küchentischen, in der Gesellschaft, in der Politik. Die Diskussion dreht sich immer wieder um Fremdenfeindlichkeit, Integration, Toleranz, Kulturbruch oder der Umgang mit dem Islam. Dass es in Deutschland inzwischen drei Heimatministerien gibt, ist eine Folge dieser Entwicklung.

Die Kulturredaktion der Deutsche Welle wird sich ebenfalls in diversen Beiträgen mit dem Begriff "Heimat" beschäftigen. Zum Auftakt haben wir mit dem Soziologen Armin Nassehi gesprochen. Nassehi hat iranische Wurzeln, ist in Tübingen geboren und hat mit 18 Jahren die Entscheidung getroffen, sich katholisch taufen zu lassen. Wenn er über Heimat nachdenkt, schwingen besondere persönliche Erfahrungen und Empfindungen mit.

DW: Herr Nassehi, warum hat der Begriff "Heimat" derzeit in Deutschland wieder Konjunktur?

Armin Nassehi: Wir erleben ja seit einigen Jahren das, was man Identitätspolitik nennen kann. Die Frage nach Zugehörigkeiten, die Frage, wie man das Eigene beschreibt, die Frage - natürlich auch durch die Flüchtlingskrise ausgelöst - was eigentlich deutsch ist. Die Frage, wer dazugehört und wer nicht. Und all das bedient der Heimatbegriff und deshalb hat dieser Begriff tatsächlich wieder Konjunktur.

Nun hat ja schon der Schriftsteller Max Frisch das deutsche Wort "Heimat" für unübersetzbar gehalten und die zahlreichen Diskussionen und Heimatbegriffe sind inzwischen so vielschichtig, dass er sich jeder eindeutigen Definition entzieht. Möchten Sie es dennoch wagen, Heimat zu definieren?

Wahrscheinlich ist Heimat, wo man sein kann, ohne sich rechtfertigen zu müssen, dass man da ist. Ich glaube, so kann man Heimat abstrakt definieren. Nur würde man es sich damit zugleich einfach machen, denn beim Heimatbegriff geht es ja nicht nur um das, was dort bezeichnet wird. Es geht auch darum, diesen, wie Sie richtig sagen, völlig uneindeutigen Begriff zu verwenden, der einen großen Assoziationsraum hat.

Prozession Schützenverein
Typisch deutsch: Schützenverein bei einer Prozession durchs HeimatdorfBild: picture-alliance/AP Photo/M. Schrader

Der Heimatbegriff ist übrigens zunächst ein Rechtsbegriff gewesen. Heimat war der Ort, an dem jemand geboren oder gemeldet war. Er wurde dann ein sehr romantisierter Begriff, in den man alles Mögliche hineindenken kann bis zum metaphysischen Heimatlosigkeitsgefühl - auch das gibt es nur im Deutschen. Aber als Soziologe würde ich sagen: Als Heimat bezeichnet man den Ort, an dem man nicht legitimieren muss, dass man da ist. Das beinhaltet natürlich eine große Bandbreite. Das kann der Ort sein, an dem man immer gelebt hat. Aber das können auch Leute sein, die erst später dazugekommen sind, aber mit Recht behaupten können, hier gehöre ich hin. Und niemand widerspricht. Heimat ist also stets auch an die Anerkennung der anderen gebunden.

Jeder Mensch definiert wahrscheinlich Heimat anders, aber gibt es häufig wiederkehrende Aussagen, mit denen Menschen ihre Heimat definieren?

Es ist ganz interessant, wenn man in empirische Untersuchungen guckt. Wo diese Frage gestellt wird, fallen den Menschen interessanterweise oftmals eher sinnliche Kategorien ein. Also gar nicht Dinge, die man jetzt kognitiv beschreibt, sondern die eher sinnlich vermittelt sind, ein Dialekt zum Beispiel oder eine Melodie oder bestimmte Gerüche und Geschmäcker. Das Essen ist ganz wichtig, Architektur, Bilder, die gut funktionieren. Das finde ich ganz interessant, dass das Erleben von Heimat sich eher auf Praktiken und viel weniger auf abstrakte Weltbilder oder Ideologien bezieht - es sei denn, man fragt nach, dann ist es oft leichter, über abstrakte Kategorien der Zugehörigkeit zu sprechen als über eher unsichtbare Formen der Vertrautheit.

Das ist insofern nachvollziehbar, als unser Alltag ja sehr stark praktisch geprägt ist. Wir fühlen uns eigentlich dann am wohlsten, wenn unsere Praktiken gut funktionieren. Wenn wir uns zum Beispiel in einem gewissen Lebensraum gut bewegen können, macht uns das irgendwie gelassener. Das wissen wir aus der Soziologie, seit wir Handlungen nicht nur als etwas Kognitives betrachten, sondern auch als etwas, das eine sehr starke sinnliche Komponente hat. Das ist es, was Vertrautheit produziert.

Sie selbst sind aufgewachsen in Tübingen, München, Landshut, Teheran und Gelsenkirchen. Was ist denn für Sie persönlich Heimat?

Diese Frage hab ich schon befürchtet. Es ist für mich ganz schwer, mich an einen Raum zu binden. Am ehesten wären das die beiden Orte, an denen ich am längsten gelebt habe, München und Münster. Nach Gelsenkirchen war ich noch 20 Jahre in Münster. Aber das ist ganz schwer zu sagen. Für mich ist es eigentlich eher so eine Idee, die mit Olfaktorischem [alles, was den Geruchssinn betrifft, Anm. d. Red.] und mit Klängen, mit Musik zu tun hat.

Stephanskirche in Bamberg
Auch ein Stück Heimat? Die jahrhundertealte Stephanskirche in BambergBild: DW/Maksim Nelioubin

Ich kann mich sehr gut erinnern an bestimmte Formen von Musik, die auch in der Familie eine Rolle gespielt haben, die ich heute noch höre. Da empfinde ich Heimat. Ich bin auch jemand, für den zum Beispiel Kirchenräume etwas Vertrautes haben, aber ich könnte jetzt nicht sagen, das ist ein bestimmter Ort. Ich würde eher diese abstrakte Definition nehmen, für einen Soziologen dann vielleicht wieder erwartbar: Heimat ist da, wo ich nicht legitimieren muss, dass ich dorthin gehöre und wo ich mich gewissermaßen blind bewegen kann.

Wie wirkt sich ein Verlust von Heimat in aller Regel aus?

Der Verlust von Heimat wirkt sich in zweifacher Weise aus: oft als Idealisierung der alten Heimat, die man verlassen hat. Das kann man im Kleinen erleben, wenn man das erste Mal auf Reisen war und den Kontinent verlassen hat. Viele machen die Erfahrung, dass sie erst Europäer oder Deutsche wurden, als sie mal in den USA oder in Asien waren - wegen der Distanz und Fremdheitserfahrung sozusagen. Der Verlust der alten Heimat ist immer mit Idealisierung verbunden - übrigens nicht nur zeitlich, sondern auch systematisch. Wenn man an die Heimattümelei der Romantik denkt, dann ist diese als intellektuelle und künstlerische Form ja in einer Zeit entstanden, in der die unbefragte, unreflektierte Heimat bereits verschwunden war. Das Heimatkonzept ist damit gewissermaßen eine Modernisierungs- und Mobilitätsfolge. Das ist der eine Aspekt.

Der andere Aspekt ist natürlich Kompensation von Heimat. Wenn Sie an eine mobile Gesellschaft denken, wenn sie an Migrationen denken, heißt das, dass man Heimat im Sinne von Vertrautheit irgendwo anders wieder kompensieren muss. In Nord- und Südamerika etwa gibt es viele Nachbildungen der Orte, von denen die Leute herkamen, also zum Beispiel auch viele deutsche Zentren, die gewissermaßen Heimat simulieren - meist eine Heimat, die es in der Heimat selbst nie gegeben hat. Aber man kann sich auch neue Heimaten aufbauen. Wenn man ganz böse wäre, könnte man sagen: Die Nachfahren polnischer Auswanderer, die im 19. Jahrhundert ins Ruhrgebiet gekommen sind, konnten hundert Jahre später über "Polacken" schimpfen.

Weshalb greift denn jetzt gerade die deutsche Politik diesen Begriff Heimat auf? In Bayern gibt es seit 2014 ein Heimatministerium, in Nordrhein-Westfalen seit 2017. Jüngst wurde auch auf Bundesebene ein solches Ministerium gegründet.

Man kann es ja ein bisschen humorig interpretieren und sagen, dass das Interessanteste daran ist, dass jetzt ein katholischer Bayer Heimatminister im protestantischen Preußen geworden ist. Es ist ein hartes Schicksal für den guten Herrn Seehofer.

Horst Seehofer
Seit März 2018 Bundesheimatminister: Horst SeehoferBild: picture alliance/dpa/S. Hoppe

Aber man kann es auch ernsthaft sagen: Das erste Heimatministerium gab es tatsächlich hier in Bayern unter dem Finanz- und Heimatminister Söder, und seine Aufgabe bestand interessanterweise gar nicht mal darin, irgendwelche romantischen Heimatvorstellungen zu pflegen, sondern sich um ähnliche Lebensverhältnisse in Stadt und Land zu kümmern. Es ist ja durchaus ein honoriges Ziel, das zu machen. Das bedeutet in Bayern vor allem: Breitbandausbau und Umgehungsstraßen. Spannenderweise wird das mit dem Heimatbegriff aufgeblasen.

Und wie wird der Heimatbegriff über dieses - wie Sie sagen - honorige Ziel hinaus verwendet?

Zurzeit wird dieser Heimatbegriff eher verwendet, um identitätspolitische Fragen zu adressieren. Ich sehe darin letztlich den Versuch einer AfD-Verhinderungs-Strategie: Wenn die jetzt über das Eigene reden, dann machen wir das auch. Und dann wird der Innenminister zugleich auch ein Heimatminister. Genau genommen ist das eine lächerliche Form von Symbolpolitik. Wenn man genau hinguckt, brauchen wir alles, nur kein Heimatministerium. Das ist ja kein Ressort, das man tatsächlich bespielen kann. Vielleicht sollte man darüber nachdenken, was man in der Gesellschaft tun muss, dass sich die Leute so fühlen, dass sie nicht legitimieren müssen da zu sein. Und da würden mir schon ein paar Dinge einfallen.

Aber das würde ich nicht mit dem Heimatbegriff aufladen, der ja gleichzeitig auch noch taktische Deutschtümelei sein soll, weil der Heimatminister derzeit nicht müde wird, ohne Not zu betonen: "Der Islam gehört nicht zu Deutschland." Das ist eigentlich eine alberne Form von Politik. Ich halte das wirklich für pure und zugleich misslungene Symbolpolitik.

Prof. Armin Nassehi (*1960) übernahm 1998 den Lehrstuhl für Soziologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Seine Aufgabengebiete umfassen Kultursoziologie, Politische Soziologie, Religionssoziologie sowie Wissens- und Wissenschaftssoziologie. Seit 2012 ist er Herausgeber der Kulturzeitschrift "Kursbuch".

Das Gespräch führte Klaus Krämer.