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Helmut Kohls letzter Appell

Felix Steiner4. November 2014

Mit einem Appell will Altkanzler Helmut Kohl das krisengeplagte Europa wachrütteln. In seinem neuen Buch rechnet der gesundheitlich schwer angeschlagene 84-Jährige aber auch mit seinem Nachfolger Gerhard Schröder ab.

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Buchvorstellung 'Aus Sorge um Europa' (Foto: Reuters)
Bild: Reuters/K. Pfaffenbach

Vielleicht geht es Helmut Kohl wie Stéphane Hessel: Auch den früheren französischen Widerstandskämpfer und UN-Diplomaten hatte im Jahr 2010 die Realität des 21. Jahrhunderts enttäuscht und so griff er in hohem Alter nochmals zur Feder: "Empört Euch" rief der damals 93-Jährige der französischen Jugend zu und forderte sie auf, gegen den Finanzkapitalismus und für den Pazifismus Position zu beziehen. Sein nur 14-seitiges Pamphlet erzielte eine Millionen-Auflage.

Auch das neue Buch von Alt-Kanzler Kohl ist nur noch ein schmales Bändchen geworden und ausweislich des Untertitels "Ein Appell". Knappe 120 Seiten von einem, der bisher nur dicke Bücher schreiben konnte. Soll der Text also ein Vermächtnis sein? Knapp geschrieben, weil auch die Zeit, die dem inzwischen 84-Jährigen bleibt, nur noch knapp ist? Das zumindest legt der erste Eindruck nahe bei der Vorstellung des Buches am Montag in Frankfurt am Main: Kohl sitzt wie eine Wachsfigur im Rollstuhl, das Sprechen fällt ihm schwer. Viele Halbsätze sind nicht oder nur schwer verständlich. Wie schreibt man in diesem Zustand überhaupt noch ein Buch?

Maike Kohl-Richter - Die Helferin an seiner Seite

Das klärt Kohls Frau Maike auf, die ihm bei seinen öffentlichen Auftritten nicht von der Seite weicht - weil der Kanzler der Einheit und Ehrenbürger Europas erkennbar hilflos ist, seit er vor nunmehr sechs Jahren schwer gestürzt ist: "Mein Mann hat das alles im Kopf." Sie gehe in die Archive, suche ihm heraus, was er im Kopf habe, und dann lege sie ihm schrittchenweise die Dinge vor. Soll wohl heißen: Sie schreibt die Texte, die er redigiert. "Und dann sagt er: Das will ich sagen, das will ich nicht sagen, und das möchte ich anders sagen." Abgesehen davon, dass Kohl nicht mehr stundenlang diktieren könne, sei das seine Arbeitstechnik "wie früher".

"Wie früher" - das ist das Grundthema in Kohls Buch. Früher, will heißen in seiner Generation, die die Schrecken des Zweiten Weltkriegs noch miterlebt hat, sei Europa noch ein Herzensthema gewesen. Natürlich habe auch damals jeder seine nationalen Ziele verfolgt. Und doch sei niemand auf die Idee gekommen, gemeinsame europäische Werte einem innenpolitischen Ziel zuliebe zu opfern. Weil jedem klar gewesen sein, dass nur die europäische Einigung den Frieden auf dem Kontinent garantiere. Genau diese Gedanken will Kohl wieder im Vordergrund sehen. Er möchte, dass die Politiker mit europäischen Gemeinsinn und Gemeinschaftsgeist Vorbilder sind. Weil nur so die Bürger die Europäische Union mittragen und nicht nur ertragen würden.

Maike Kohl-Richter, Helmut Kohl und Jean-Claude Juncker (Foto: Reuters)
Buchpräsentation in Frankfurt am Main: Maike Kohl-Richter, Helmut Kohl und Jean-Claude JunckerBild: Reuters/K. Pfaffenbach

Die EU muss die Herzen der Menschen erreichen

Diesen Gedanken greift Jean-Claude Juncker auf, der ihn gar zum Motto für die Arbeit der von ihm geführten EU-Kommission erheben will. Seine Kommission - die er "die Kommission der letzten Chance" genannt hat, weil sie die Herzen der Bürger zurückerobern müsse. Angesichts dieser dramatisch klingenden Wortwahl wundert man sich dann doch, dass Juncker seinen ersten Arbeitstag als Kommissionspräsident nicht in Brüssel, sondern in Frankfurt, an der Seite seines alten Freundes Helmut verbringt. Kohl sei eines von zwei seiner noch lebenden europapolitischen Vorbilder. Das andere, Jacques Delors, trifft Juncker am Donnerstag - so viel Symbolik gönnt sich der "Kommissionspräsident der letzten Chance" zu Beginn seiner Amtszeit.

Der Euro sei nicht das Zugeständnis an Frankreich gewesen, um von Francois Mitterrand den Segen zur Deutschen Einheit zu erhalten. Der Euro sei vielmehr eingeführt worden, um die europäische Einigung unumkehrbar zu machen - Kohl schreibt das, und Juncker betont es in seiner Laudatio ausdrücklich. Weil sein Freund Helmut die Deutungshoheit über sein Lebenswerk behalten müsse. Das ist in der Tat angriffen worden. Vor allem im Europa-Wahlkampf, von der Euro-kritischen "Alternative für Deutschland" (AfD), die am Ende sieben Prozent der Stimmen erhalten hat. Das war in den Wochen, in denen die Idee zum Buch "Aus Sorge um Europa" entstanden ist.

Scharfe Kritik an Nachfolger Schröder

Gerhard Schröder (Foto: dpa)
Er löste Kohl 1998 als Kanzler ab: Gerhard SchröderBild: picture-alliance/dpa

Nein - die AfD kommt in dem Buch nicht vor. Nicht mit einer Silbe. Da ist Kohl ganz der alte Staatsmann: Es gibt Gegner, die würde man durch namentliche Erwähnung eher adeln, als ihnen schaden. Den Gegner, den er erwähnt, das ist die rot-grüne Regierung unter Gerhard Schröder, die ihn vor 16 Jahren aus dem Amt vertrieben hat. Drei fundamentale Fehler kreidet er seinem Nachfolger an: die Aufnahme Griechenlands in den Euro-Raum, die Verletzung des Stabilitätspakts durch ein zu hohes Staatsdefizit und das Beschädigen der transatlantischen Allianz durch das Nein zum Irak-Krieg.

Die Art, wie Kohl diese Punkte in seinem Buch formuliert, machen deutlich, dass es um mehr als nur um die "Deutungshoheit" geht. Es geht auch um Nachkarten, um offenbar nicht verarbeiteten Frust über seine Abwahl 1998. Es ist nicht Maike Kohl-Richter, Kohls zweite Ehefrau, die den hilflosen Alt-Kanzler ins Rampenlicht schiebt, wie bereits mehrfach gemutmaßt wurde. Das wurde in Frankfurt ganz offenbar: Es ist Kohl selbst, der nicht loslassen kann, der Kommentare geben will. Der zum Mikrofon greift, obwohl nur Jean-Claude Juncker gefragt war und er selbst kaum verstehbar ist.

Helmut Kohl - das lebendige Denkmal, das gerne mehr sagen würde, aber nicht mehr mehr sagen kann. Bei alledem fast tragisch wirkt. Aber die Medienpräsenz und das Rampenlicht von 80 Journalisten und beinahe zehn Kamerateams ganz augenscheinlich genießt. Sich nach der Pressekonferenz mit vier ausgewählten Journalisten an die Kaffee-Tafel schieben lässt - natürlich ist der Chef des auflagenstarken Boulevard-Blatts "BILD" mit dabei.

Es ist vor allem Helmut Kohl selbst, der das, was bei vielen beklemmende Gefühle auslöst, ganz offenbar so will. Warum er sich in seinem Zustand das alles zumutet, bleibt bis auf weiteres sein Geheimnis. Aber er ist ja nicht allein: "Hallo Jean-Claude - alles Gute für Dein neues Amt!", ruft ein seit Jahren pensionierter TV-Korrespondent dem EU-Kommissionspräsidenten am Ende der Buchpräsentation zu. Der EU-Kommissionspräsident kennt mich, und ich bin mit ihm auf Du - das scheint auch manch anderem über die Beschwernisse des Alterns hinweg zu helfen!