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Helmut Schmidt: "Chinas Einparteiensystem stört mich nicht"

Das Gespräch führte Zhu Hong13. September 2006

In Hamburg beginnt der Wirtschaftsgipfel "China Time 2006", an dem auch Chinas Premier Wen Jiabao und Ex-Kanzler Helmut Schmidt teilnehmen. Im DW-WORLD-Interview erklärt Schmidt, weshalb er China nicht kritisiert.

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Helmut Schmidt in seinem Hamburger Büro: "Wenn alle Mächte der Welt so wären wie die Chinesen, wäre die Welt etwas friedlicher"Bild: DW

DW-WORLD.DE: Herr Schmidt, die Todesstrafe in China wird international oft scharf kritisiert. Wie beurteilen Sie diese Strafe?

Helmut Schmidt: Die Todesstrafe gibt es in vielen Ländern der Welt. Für mein Land lehne ich sie ab, aber sie ist keine chinesische Besonderheit. Ich will mich dazu nicht äußern, weil es nicht meine Sache ist. Es ist ein Irrtum mancher westlicher Journalisten und Politiker, dass sie meinen, sie müssten sich in die Lösung chinesischer Probleme einmischen. Davon halte ich überhaupt nichts.

China betreibt vehement seine Ein-Kind-Politik. Was halten Sie von diesem Mittel der Geburtenkontrolle?

Helmut Schmidt
Helmut Schmidt war der fünfte Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland und mehrmals in China - sowohl in seiner Amtszeit, als auch danach. Am 23. Dezember 2003 feierte er seinen 85. Geburtstag. (Archiv-Foto vom 1. August 2003 in einem Hotel in Samnaun, Graubuenden, Schweiz).Bild: AP

Es gibt zwei Regierungen auf der Welt, die begriffen haben, dass ihr Land Gefahr läuft, überbevölkert zu sein. Die eine war Indien unter Indira Gandhi, die versucht hat, die Geburtenhäufigkeit zu dämpfen. Sie hat den Versuch mit sehr brutalen Mitteln betrieben und ihn bald wieder aufgegeben. In China ist die Ein-Kind-Politik aufrecht erhalten worden. Sie wirkt nicht überall, sie wirkt in Shanghai besser als in Chongqing oder irgendwo auf dem Lande. Aber sie hat ihre Wirkung, die langfristig schwer zu erkennen ist. Langfristig führt sie zum Beispiel zu einer Anhebung des Durchschnittsalters des chinesischen Volkes, was auch negative Seiten hat. Und es führt zu einem Defizit an Frauen und einem Überschuss an Männern, das wird man im Jahre 2030 deutlich spüren. Aber das sind Probleme, die ich als Ausländer nicht bewerten kann, das müssen die Chinesen selber wissen. Es kann sein, dass die globale Erwärmung dazu führt, dass Teile des chinesischen Territoriums bewohnbar werden, die es heute noch nicht sind. Es kann sein, dass dort in Zukunft mehr Regen fällt als bisher, ich weiß es nicht. Aber es ist durchaus denkbar, dass es ein weiteres Wachstum der chinesischen Bevölkerung gibt, heute 1,3 Milliarden Menschen, in der Mitte dieses Jahrhundert wahrscheinlich 1,6 Milliarden. Und es ist durchaus denkbar, dass genug Platz und Nahrung für so viele Menschen in China vorhanden sein wird. Es kann aber auch anders kommen.

Lesen Sie weiter: Wie Helmut Schmidt Chinas Wirtschaftsaufschwung einstuft und worin nach seiner Ansicht die Unterschiede zwischen den Formen sozialer Marktwirtschaft in China und in Deutschland bestehen …

Ende dieses Monats wird Ihr Buch "Nachbarland China" erscheinen. Sie haben darin Chinas Wirtschaftsaufschwung thematisiert. Wie wird Chinas Aufstieg die Welt verändern?

Helmut Schmidt
Helmut Schmidt während eines Auftritts in der NBC-Sendung "Meet the Press" in New York am 7.12.1974Bild: AP

Zunächst, was die Wirkung innerhalb Chinas angeht: Heute vor dreißig Jahren hätte kein Mensch auf der Welt diese rasante Entwicklung der chinesischen Wirtschaft erwartet. Auch noch vor 15 Jahren hätte niemand gedacht, dass China im Begriff ist, die drittwichtigste Volkswirtschaft der Welt zu werden. Im Augenblick ist Deutschland hinter Amerika und Japan noch auf Platz drei, aber China wird uns in wenigen Jahren überholen und spätestens in fünfzehn, vielleicht zwanzig Jahren auch Japan. Es ist ein wirkliches Mirakel, dass das chinesische Volk am Ende des 20. Jahrhunderts diesen wirtschaftlichen Aufschwung zustande gebracht hat - so ein Phänomen hat es ansonsten in der ganzen Weltgeschichte nirgendwo sonst gegeben. China hat immerhin eine dreitausendjährige Geschichte, in deren Verlauf es im 19. Jahrhundert im Verfall begriffen war, nach den Opiumkriegen und dem Boxeraufstand unter ausländische Einflussnahme geraten ist und nicht mehr wirklich souverän war, das dann im 20. Jahrhundert von den Japanern besetzt worden ist. Es ist eine ungewöhnliche Sache. Was die Welt draußen angeht, da ist die Wirkung einstweilen noch nicht wirklich zu überschauen. Im Laufe der letzten vier, fünf Jahre hat die chinesische Nachfrage nach Öl, nach Gas, nach Stahl, nach Rohstoffen aller Art die Weltmarktpreise nach oben getrieben. Gleichzeitig hat der chinesische Export für manche europäische und amerikanische Industrien das Hinzutreten eines neuen Wettbewerbers bedeutet. Manche nehmen das den Chinesen übel: In meinen Augen tun sie das zu Unrecht: Entweder ist man für den Wettbewerb, dann muss man akzeptieren, dass auch andere als Wettbewerber auftreten, so wie vor mehr als hundert Jahren die Japaner als Wettbewerber in die Weltwirtschaft eingetreten sind, oder vor vierzig Jahren Südkorea, Taiwan oder Hongkong. Und jetzt eben die Volksrepublik China, das sorgt für Unruhe im Westen. Aber moralisch ist diese Unruhe nicht gerechtfertigt.

Was wollen Sie mit dem Buch "Nachbarland China" erreichen?

Mir liegt am Herzen, dass die Menschen in Westeuropa und in meinem eigenen Land, in Deutschland, begreifen, dass wir tatsächlich, in unserem eigenen Interesse, ein gutes nachbarschaftliches Verhältnis zu China brauchen.

Die Beziehungen zwischen Deutschland und China sind bereits sehr gut.

Das war nicht immer so, und man muss Wert darauf legen, dass es so gut bleibt. Die Beziehungen, von denen Sie sprechen, sind eine Angelegenheit der letzten dreißig Jahre. Ich war der erste deutsche Kanzler, der nach China gereist ist und inzwischen bin ich zwölf oder fünfzehn Mal dort zu Besuch gewesen. Die Konkurrenz zwischen deutschen, amerikanischen, französischen und chinesischen Unternehmungen wird sich verstärken. Und nach einiger Zeit gilt das nicht nur für industrielle Beziehungen, sondern auch für Finanzinstitute, für Banken, für Versicherungen. Die Konkurrenz wird sich erheblich ausweiten.

Wo sehen Sie den Unterschied zwischen der deutschen sozialen Marktwirtschaft und der chinesischen sozialistischen Marktwirtschaft?

Die Unterschiede sind in vielen Bereichen sehr groß. Es gibt einstweilen nur eine Vergleichbarkeit: Das ist der Umstand, dass in beiden Staaten in zunehmender Weise Marktwirtschaft herrscht; in Deutschland in sehr viel höherem Maße als in China, dort ist das relativ neu. Aber unter allen anderen Aspekten sind die Unterschiede sehr groß. Zum Beispiel gibt es in Deutschland ein weit ausgebautes System der Führsorge, für alte Menschen, für Kranke, für Arbeitslose. Was wir den Wohlfahrtsstaat nennen, ist in China erst im Aufbau begriffen. Es wird lange Zeit dauern, bis es in China eine für alle Menschen ausreichende Rentenversorgung oder Arbeitslosengeld gibt.

Ich möchte noch etwas hinzufügen: Anstatt Marktwirtschaft hätte ich auch Kapitalismus sagen können. Kapitalismus als Wirtschaftsform enthält Gefahren, insbesondere die Gefahr sozialer Spannungen. In Amerika und noch stärker in Westeuropa werden diese Gefahren einer kapitalistischen Staatsordnung einerseits durch den Wohlfahrtsstaat und andererseits durch die demokratische Staatsordnung einigermaßen unter Kontrolle gehalten. Das ist in China gegenwärtig noch nicht der Fall. Und deshalb scheint mir, dass zur Kontrolle der kapitalistischen Entwicklung in China die Rückbesinnung auf das Dao und das Li von ganz großer Bedeutung werden wird. ("Dao" ist ein chinesisches Wort für "Weg", ein Kernbegriff des "Li", das wiederum ein chinesisches Wort für die Sittenlehre des Konfuzianismus ist. - Anm. der Red.) Die Rückbesinnung zum Beispiel auf den Konfuzianismus halte ich für eine wünschenswerte Entwicklung, weil sie die Auswirkungen des Kapitalismus begrenzen kann.

Lesen Sie weiter: Was Helmut Schmidt über das Einparteien-System sagt.

Wie beurteilen Sie das chinesische Einparteien-System?

Bundeskanzler Helut Schmidt besucht Mao Tse-tung
Bundeskanzler Helmut Schmidt wurde während seines Besuchs in der Volksrepublik China am 30. Oktober 1975 vom Ersten Vorsitzenden Mao Tse-tung empfangenBild: picture-alliance/ dpa

Das stört mich überhaupt nicht. Es hat in China im Laufe seiner dreitausendjährigen Geschichte niemals eine Oppositionspartei gegeben. Nicht während der Ming-Dynastie, nicht während der Tan-Dynastie, noch während einer der anderen. Ich beteilige mich nicht an dieser Art von westlicher Kritik. Das ist eine Sache, die die Chinesen entscheiden müssen, nicht die Ausländer und nicht der Westen.

Sie haben nebenan in Japan das Beispiel eines Staates, der wie eine Demokratie aussieht, in dem aber seit über einhundert Jahren dieselbe Partei regiert. Und trotzdem funktioniert Japan ganz gut. Das ist eine andere Kultur, eine andere politische Kultur als in Europa. China hat eine noch viel ältere Kultur, die sich sowohl von Japan als auch von Europa sehr unterscheidet. Es ist nicht gut, wenn vom Ausland her anderen Nationen vorgeschrieben wird, wie sie ihren Staat oder ihre Gesellschaft einrichten sollen. Das läuft auf Besserwisserei, auf Spannungen und Konflikte hinaus. Ich habe als Ausländer ein Interesse daran, dass sich die Volksrepublik China friedlich verhält, und das tut sie. Sie hat sich - ob in der Taiwan-Frage, in der Frage Nordkoreas, in der Frage der Bombardierung der chinesischen Botschaft in Belgrad, in der Frage des Zusammenstoßes eines amerikanischen mit einem chinesischen Flugzeug - sehr moderat und vorsichtig verhalten. In meinen Augen ist Kritik an der Außenpolitik Chinas weder sinnvoll noch angebracht. Im Gegenteil: Wenn alle Mächte der Welt außenpolitisch so vorsichtig wären, wäre die Welt etwas friedlicher.

Wie sehen Sie das Verhältnis Chinas zu Taiwan?

Ich gebe Ihnen dazu ein Beispiel: Zu Taiwan gehören zwei kleine Inseln, die unmittelbar vor der Küste Chinas liegen. Es wäre ohne weiteres möglich, diese beiden Inseln zu besetzen - das haben die Chinesen nicht getan, weder unter Mao, noch unter Deng, noch unter einer anderen Regierung. Das kann man nur anerkennen.

Sie haben 1975 China besucht und dabei ein sehr langes Gespräch mit Mao geführt. Was war Ihr Eindruck vom Mao?

Das ist sehr schwer zu beantworten. Für mich war offensichtlich, dass er damals bereits mindestens einen Schlaganfall hinter sich hatte und sich nicht mehr normal artikulieren konnte. Er hatte drei Dolmetscherinnen um sich, er sprach Chinesisch und sie übersetzten ins Englische, aber manchmal haben sie ihn nicht verstehen können. Dann haben sie untereinander beratschlagt, was er wohl gesagt habe, und es ist auch ein paar Mal vorgekommen, dass sie etwas auf einen Zettel geschrieben und es ihm gezeigt haben, dann hat er genickt oder es korrigiert. Er war also durch den Schlaganfall schon sehr behindert.

Mao ist vor 30 Jahren gestorben. Wie beurteilen Sie Mao heute und seine historische Rolle? Wie hat Ihrer Meinung nach Mao China und die Welt beeinflusst?

Lassen Sie mich zunächst zu seiner Wirkung auf China ein Wort sagen. Mao hat ganz sicher große Verdienste erbracht, was die Befreiung Chinas von der Befreiung Chinas von der japanischen Fremdherrschaft angeht. Auf der anderen Seite hat er auch schwere Fehler zu verantworten. Der erste war der "Große Sprung nach vorn", bei dem es Millionen Hunger-Tote gab, weil die Leute plötzlich Hochöfen basteln mussten, anstatt das Feld zu bestellen. Der zweite war die Kampagne der "Hundert Blumen", die sehr bald abgebrochen wurde und vielen Menschen schweren Schaden zugefügt hat. Der dritte war die proletarische Kulturrevolution. Wenn ich Chinese wäre, würde ich diese Fehler Maos nicht gering schätzen. Die Wirkung auf die Welt war im Wesentlichen beschränkt auf junge, linke Studenten in Westeuropa und Amerika, die sich durch die so genannte Mao-Bibel inspirieren ließen, dieses kleine rote Büchlein, das gar nicht von Mao stammte, sondern aus Zitaten besteht, die Lin Biao zusammengestellt hatte. Die jungen Stundenten, die keine Ahnung von China und Mao hatten, haben das gierig in sich aufgenommen und sich selber zu Maoisten erklärt. Das ist aber alles längst abgesunken und untergegangen. Aus heutiger Sicht ist der Einfluss Maos auf die Welt gering gewesen. Aber was sein Verhältnis zur Außenwelt angeht, muss man auch noch ein Positivum hervorheben: Mao hat keine Kriege geführt. Er ging davon aus, dass es zwischen China und der Sowjetunion einen Krieg geben würde, aber er hat diesen Krieg nicht provoziert und letztendlich hat er nie stattgefunden. Zur Zeit des Korea-Krieges hat er sich sehr vorsichtig verhalten und eigentlich erst eingegriffen, als die amerikanischen Truppen bis an die mandschurische Grenze vorgerückt waren. Er hat sich also in seiner Außenpolitik erstaunlich moderat und friedlich verhalten, auch gegenüber Taiwan.