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Herta Müller: Atemschaukel

9. Oktober 2009

Die Literaturnobelpreisträgerin hat mit ihrem Roman "Atemschaukel" den Rumäniendeutschen, die am Ende des 2. Weltkrieges in sowjetische Zwangsarbeitslager verschleppt wurden, ein bewegendes literarisches Denkmal gesetzt.

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Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller (Foto: AP)
Literaturnobelpreisträgerin Herta MüllerBild: AP

Wir besitzen mannigfache literarische Berichte über die deutschen Konzentrationslager und die sowjetischen Gulags, von Primo Levi, Imre Kertész und Ruth Klüger bis Warlam Schalamow und Alexander Solschenizyn. Die Zwangsarbeitslager in der Ukraine, in welche die Sowjets zu Kriegsende die gesamte arbeitsfähige deutsche Bevölkerung Rumäniens deportierten, zum "Wiederaufbau" der kriegszerstörten Sowjetunion, waren bisher kaum Thema der Literatur.

Dieses Schweigen hat nun Herta Müller gebrochen. Mit ihrem Roman "Atemschaukel" setzt die rumäniendeutsche Schriftstellerin den Opfern der Massenverschleppung nun ein bewegendes literarisches Denkmal. Der Roman stützt sich vornehmlich auf die Erinnerungen des Lyrikers und Ex-Lagerhäftlings Oskar Pastior, der während der gemeinsamen Arbeit an dem Buch 2006 verstarb, sowie auf Gespräche Herta Müllers mit ehemaligen Deportierten. An diesem Roman lassen sich die literarischen Formprobleme gut ablesen, mit denen sich eine nachgeborene Autorin – Müller ist Jahrgang 1953 – bei der Darstellung des Horrors der Lager auseinandersetzen muss, den sie nicht selbst erlebt hat.

Buchcover Herta Müller: Atemschaukel (Hanser-Verlag)
Bild: Carl Hanser Verlag

Hunger. Ungeziefer. Kälte. Und wieder Hunger

Herta Müller folgt in 64 Kurzkapiteln den Lager-Erinnerungen ihres Ich-Erzählers Leopold Auberg aus Siebenbürgen, der im Januar 1944 als Siebzehnjähriger in ein sowjetisches Schwerstarbeitslager deportiert wird und erst fünf Jahre später, schwer gezeichnet, zu seiner Familie zurückkehren darf.

Diese Kapitel kreisen in vielen Variationen um einige wenige zentrale Themen, die die grausame Lagerwelt beherrschen: den Hunger, das Ungeziefer in den Baracken, die Zwangsarbeit unter unmenschlichen und gesundheitsschädlichen Bedingungen, die Kälte bei unzureichender Bekleidung, das Schreckensregime der Kapos, sowie – der Cantus firmus, der den ganzen Roman grundiert – den Zerfall der Mitmenschlichkeit der Gefangenen unter diesen Extrembedingungen der Erniedrigung und der körperlichen Qual. Vor allem dem Hunger widmet Müller ihre literarische Vergegenwärtigungskunst: Wie der Hunger die Menschen an Leib und Seele foltert und ihre Menschenwürde zerstört, wird in immer neuen Sprachbildern beschworen – den Bildern vom "Hungerengel", vom "Eigenbrot", von der "Atemschaukel".

Lager-Elend, literarisch überhöht

Herta Müller sucht für das Entsetzliche eine bildstarke poetische Sprache, um so das alltägliche Lager-Elend literarisch zu überhöhen. Man mag das preziös finden, in einigen Sprachbildern zu gewollt celanesk; gleichwohl ist der Lektüre-Eindruck in seiner lakonischen Konzentration auf einige wenige Protagonisten und Tatbestände bestürzend und nachhaltig, vor allem, weil Herta Müller die Rückkehr aus dem Gulag in ihre Erzählung einbezogen hat. Erst die heillose Entfremdung der Rückkehrer offenbart das ganze Ausmaß dessen, was ihnen angetan wurde.

Rezensentin: Sigrid Löffler
Redaktion: Gabriela Schaaf


Herta Müller: «Atemschaukel», Roman.
Hanser Verlag, München 2009. 303 S., € 19,90