Hertha: mit Leidenschaft zu Big Points
24. April 2022Das hat man im Berliner Olympiastadion lange nicht mehr gesehen: Mehr als 50.000 Zuschauer feuerten ihre Hertha lautstark an, sangen inbrünstig und schwenkten ihre Schals - eine großartige Kulisse für die Mannschaft von Trainer Felix Magath im Abstiegsgipfel gegen den direkten Konkurrenten VfB Stuttgart.
Und kurz vor Schluss dann die Entscheidung für einen glücklichen Hertha-Sieg: Mitten hinein in den Dauersturmlauf, mit dem der VfB die Berliner in der zweiten Halbzeit unter Druck gesetzt hatte, fiel in der dritten Minute der Nachspielzeit der Treffer, der das ganze Stadion erlöste: Der eingewechselte Ishak Belfodil schloss einen Konter doch noch erfolgreich ab, nachdem er eigentlich schon zu lange gewartet hatte. Doch es passte zu diesem Tag, an dem das Glück mal wieder auf Seite der Hertha und des zuletzt ausgebooteten Stürmers war.
Frühestes Tor der Saison
Und auch der andere Hertha-Stürmer traf an diesem Sonntag: Davie Selke schloss nach einer Flanke sehenswert per Volleyschuss zum 1:0 für die Hertha ab. Keine vier Minuten waren da gespielt - das früheste Tor der Berliner in dieser Saison, die sich den Sieg anschließend durch Leidenschaft und Defensiv-Kampf hart erarbeitete. "Das Herz ist erleichtert, die Stimmung war unfassbar heute. Ich muss nicht erklären, wie wichtig der Sieg heute für uns war", sagte Selke nach dem Spiel bei DAZN.
"Wir haben uns vorgenommen, wie gegen Augsburg über den Kampf zu kommen", sagte der wieder einmal sichere Torhüter Marcel Lotka und angesprochen auf den Trainer: "In unserer derzeitigen Lage ist Felix Magath der Richtige für uns. Ich glaube, mit ihm werden wir die Klasse halten." Dieser blickte auch nach der Entscheidung in der Nachspielzeit stoisch vor sich hin. Doch nach dem Abpfiff huschte auch dem 68-Jährigen, der die Hertha zum richtigen Zeitpunkt geeint hat und den dritten Sieg im fünften Spiel mit den Berlinern einfuhr, ein Lächeln übers Gesicht.
"Die Steigerung hat man schon in den ersten fünf Minuten gesehen, wir sind sehr gut ins Spiel gekommen. Aber nach dem 1:0 haben wir das Spiel abgegeben, das war so nicht geplant", sagte Magath im Interview bei DAZN. Den Spielverlauf hätte er sich aber anders gewünscht. "Wir haben gekämpft und wurden belohnt. Doch es war glücklich, denn wir haben Stuttgart nach dem 1:0 selber zurück ins Spiel geholt", sagte der Trainer zur Zitterpartie seiner Mannschaft.
Versöhnung vertagt
Und gezittert haben trotz ihres lautstarken Supports auch die Anhänger der "alten Dame". So wie vor zwei Wochen vielleicht der eine oder andere Hertha-Profi, als aufgebrachte Fans die Spieler nach der bitteren 1:4-Derbypleite gegen Union bedrängten und aufforderten, ihre Trikots auszuziehen.
Doch dieses mal waren alle von Beginn an alle auf der Höhe. Zwei Wochen nach der üblen Schmach gegen den Stadtrivalen stehen für Hertha zwei Siege und sechs Punkte aus zwei Spielen zu Buche. Schön gespielt? Verdient gewonnen? Danach fragt im Abstiegskampf niemand. Und auch wenn der VfB Stuttgart im zweiten Durchgang nach Spielanteilen klar die Oberhand hatte: Unverdient war der Sieg für die Hertha nicht, nur glücklich.
Konzentration, Kampfeswillen und Leidenschaft stimmten heute bei der abstiegsbedrohten Hertha. Das honorierten auch die Fans mit der vielleicht besten Unterstützung in dieser Saison, doch die Spieler haben die Eskalation nach dem Union-Spiel noch nicht vergessen und so fiel die Versöhnung bei der Hertha heute einseitig aus. "Wir haben uns als Mannschaft entschlossen, erstmal nicht zu den Fans zu gehen. Ich glaube, die Geschehnisse gegen Union waren nicht okay", sagte Torwart Lotka bei DAZN, nachdem die Mannschaft unmittelbar nach Abpfiff geschlossen in die Kabine gegangen war. Trainer Magath gab seinem Team dafür anschließend Rückendeckung: "Die Mannschaft ist schon letzte Woche nicht zu den Fans gegangen, sie waren mit der Aktion nicht einverstanden. Das ist in Ordnung so weit, dass die Spieler sich wehren gegen die Maßnahme damals."
Stabilität und Struktur
Doch bei allen emotionalen Nachwehen nach dem Derby-Debakel: Die Hertha hat sich ein Herz gefasst und steht nach den jüngsten Siegen kurz vor dem Klassenerhalt. Die Mannschaft hat sich das Glück und die Erfolge verdient - Stabilität und Struktur sind zurück bei den Berlinern, auch wenn diese Tugenden diesmal größtenteils nur in der Defensive gefordert waren. Und so wurden auch Szenen wie die von Marc Oliver Kempf gefeiert, der Stuttgarts Konstantinos Mavropanos nach einem tollen Solo im letzten Moment noch entscheidend stören konnte und anschließend einen Brust-an-Brust-Jubel mit Dedryck Boyata hinlegte.
Die Hertha zeigt in der entscheidenden Saisonphase endlich die Substanz im Spiel, die in dieser Saison so oft und speziell in den vergangenen Wochen vermissen hat lassen. Ein Gesicht der neuen Struktur: Routinier Kevin-Prince Boateng, der auch gegen Stuttgart wieder in der Startelf stand und an dessen überlegten Aktionen das Teams sich ein Stück weit aufzurichten scheint. Nach gut einer Stunde wurde der 35-Jährige unter dem Applaus der Zuschauer ausgewechselt. Seinen zweitlängster Saisoneinsatz quittierten er und Trainer Magath mit einem kurzen Shakehands - ein kleines, aber wichtiges Zeichen: Magaths Leader auf dem Platz heißt Boateng, auch wenn es nicht für 90 Minuten reicht.
"Das Training ist auf jeden Fall härter geworden unter Felix Magath," sagte Torschütze Davie Selke nach dem Sieg, der der Hertha drei Spieltage vor Saisonende fünf Punkte Vorsprung vor Stuttgart auf dem Relegationsplatz und sieben vor Bielefeld auf dem direkten Abstiegsrang 17 beschert, schmunzelnd. Es scheint der Mannschaft nicht geschadet zu haben.