Katastrophe im indischen Himalaya
9. September 2021Zunächst bemerkte keiner das Wasser, das drohend ans Flussufer schwappte.
Die Familie von Reena Bhalekar schlief tief und fest, während der frühmorgendliche Regen auf die Plane ihrer Unterkunft trommelte. "Das Wasser stieg, ganz langsam", erinnert sich die 26-Jährige. "Meiner Schwester hat gar nicht mitbekommen, dass Wasser in ihr Haus eingedrungen war."
Doch dann durchbrach irgendwo ein durchdringender Schrei aus der Nähe die Stille. Als Reena nach draußen eilte, stellte sie fest, dass der Fluss über Nacht dramatisch angestiegen war und nun ihren Slum in Chetru, einem winzigen Dorf am Rande von Dharamshala im indischen Himalaya, erreicht hatte. Die weiter unten gelegenen Siedlungen standen bereits gut 30 Centimeter unter Wasser. Da die Straße, die aus der Siedlung herausführte, überflutet war, ließ die Familie Hab und Gut zurück und kletterte den dicht bewaldeten Hügel hinauf, um sich in Sicherheit zu bringen.
Die Sturzflut im Juli richtete im gesamten Bezirk verheerende Schäden an und löste einen gewaltigen Erdrutsch aus. Es war einer von 35 Erdrutschen, die der Bundesstaat Himachal Pradesh in den ersten sechs Wochen der indischen Monsunzeit zu verzeichnen hatte - ein Anstieg der Erdrutsche um 116 Prozent im Vergleich zum Vorjahr.
Himalaya-Dörfer wie Chetru liegen in einer Region, die aufgrund des riesigen Eisschildes, der die größte Menge an gefrorenem Wasser außerhalb der Polkappen enthält, als "dritter Pol" der Erde bezeichnet wird. Wissenschaftler warnen davor, dass die Region im kommenden Jahrhundert aufgrund des Klimawandels mit schnell schmelzenden Gletschern und zunehmend unregelmäßigen Niederschlagsmustern konfrontiert sein wird.
Klimakrise und unzureichende Stadtplanung
Aktivisten zufolge deuten Katastrophen wie die in Chetru jedoch auf mehr hin als nur den Klimawandel. Sie sind ein Zeichen dafür, dass die Auswirkungen der Klimakrise durch die ungezügelte Bebauung, die durch den Tourismus und das schnelle Wachstum der Städte vorangetrieben wird, noch verstärkt werden.
"Im öffentlichen Diskurs ist es am einfachsten, das allein auf den Klimawandel zurückzuführen", sagt Manshi Asher, eine Umweltaktivistin und Mitbegründerin des lokalen Forschungskollektivs Himdhara. Dadurch werde vermieden, dass die Probleme der ungeplanten Bebauung, der mangelnden Regulierung und des ausufernden Tourismus angegangen werden, argumentiert Asher.
In einer Studie aus dem Jahr 2015, die im Auftrag der Katastrophenschutzbehörde des Bundesstaates entstand, wird vor den Risiken übermäßiger Bebauung in Himachal Pradesh gewarnt. Die Region sei bereits einem hohen Risiko durch Erdrutsche ausgesetzt, da Tiefbauarbeiten und Abholzung das ohnehin schon gefährdete Gebiet noch weiter destabilisieren.
Reenas Familie und ihre Nachbarn haben das am eigenen Leib erfahren. Die Zersiedelung und die damit einhergehende Abholzung hatten das Terrain anfällig gemacht und die Überschwemmungen im Juli möglicherweise noch verstärkt. Und dass sie sich überhaupt in dieser Gegend ansiedelten, hatte mit denselben Problemen zu tun.
Die Familien wanderten vor Jahrzehnten aus einem benachbarten Bundesstaat ein, um als Tagelöhner zu arbeiten und ließen sich in Charan Khad, einem Vorort von Dharamshala, nieder. Im Jahr 2016 wurde ihr Slum zum Gesundheitsrisiko erklärt und abgerissen, so dass rund 290 Familien obdachlos wurden.
Asher ist jedoch der Ansicht, dass das Land zu einem begehrten Areal wurde und die Bewohner vertrieben wurden, um im Rahmen eines Stadtentwicklungsprogramms der Zentralregierung zur Förderung des Wirtschaftswachstums, der sogenannten Smart City Mission, Platz für neue Gebäude zu schaffen.
"Plötzlich gab es diesen Plan, botanische Gärten, Parkplätze und alles Mögliche in der Stadt zu errichten", sagt sie und fügt hinzu, dass kein Versuch unternommen wurde, sanitäre Einrichtungen zu schaffen oder den Slum rechtlich anzuerkennen, was den Bewohnern ein Recht auf Sanierung gegeben hätte. Stattdessen wurden die Bewohner mit notdürftigen Planenbauten am Ufer eines gefährlichen Flusses zurückgelassen - dem einzigen Stück Land, das ihnen zur Verfügung stand.
Waldrodung, Bauverstöße und Sturzfluten
Das indische National Green Tribunal, das für Umweltfragen zuständig ist, hat strenge Gesetze für die Bebauungsdichte und den Bau mehrstöckiger Gebäude erlassen. 2019 verhängte der Oberste Gerichtshof zudem ein vollständiges Verbot, Bäume für Entwicklungsprojekte in den Waldgebieten von Himachal Pradesh zu fällen. Trotzdem sind das Einebnen von Hügeln und die Zerstörung von Waldgebieten weiterhin an der Tagesordnung.
"Auf dem Papier sind die Gesetze in Indien sehr gut - das Problem ist die Durchsetzung", sagt der Umweltanwalt Deven Khanna, der 2018 vom Obersten Gerichtshof der Landeshauptstadt Shimla mit der Untersuchung von Umweltverstößen in der Region beauftragt wurde. Die Zahl der Bauten in Dharamshala, die gegen geltende Gesetze verstoßen, ist seiner Meinung nach "wahnwitzig hoch".
Dharamshala ist Sitz der tibetischen Exilregierung und ein beliebtes Ziel für Pilger und ausländische Touristen. In den letzten Jahrzehnten wuchsen die Städte in der Region gewaltig, wobei sich die Bevölkerung zwischen 2011 und 2015 mehr als verdoppelte.
In dem bei Touristen beliebten Dorf Bhagsu im oberen Teil von Dharamshala, erweiterten Hotelbesitzer illegal ihre Liegenschaften, so dass das Wasser des Baches, der durch das Dorf verläuft, nicht mehr ungehindert fließen konnte. Das behinderte den Wasserdurchfluss während der Sturzflut in diesem Sommer - das Wasser konnte nirgendwohin abfließen und bahnte sich den Weg in die Hauptstraße, wo es Autos wegspülte und erhebliche Schäden an Geschäften und Häusern verursachte. Die illegalen Anbauten wurden in den darauffolgenden Tagen auf Anweisung der staatlichen Behörden abgerissen.
Technologie als Lösung?
"Das Problem ist an einem Ort wie Dharamshala noch größer, weil es sich um einen Touristenort handelt und es viele Möglichkeiten gibt, mit Grundstücken und Gebäuden Geld zu verdienen", erklärt Khanna. "Die Menschen nehmen die Risiken in Kauf, weil sie nur an Geld denken."
Enttäuscht von der Untätigkeit der örtlichen Behörden und dem Ausbleiben einer Lösung des Falles vor dem Obersten Gerichtshof glaubt Khanna nun, dass langfristig technologische Lösungen notwendig sind. Er plädiert für den Einsatz von Drohnen und Satellitenkarten, um den Baumbestand überwachen und illegale Fällungen entdecken zu können.
Auf seinen Rat hin ordnete das Oberste Gericht Modellprojekte an, bei denen Bäume mit GPS-Monitoren markiert und Drohnen zur Kartierung von Gebieten um Shimla eingesetzt wurden. Trotz anfänglicher Erfolge wurden die Programme jedoch wieder eingestellt, was Khanna auf mangelnden politischen Willen und Druck der Öffentlichkeit zurückführt.
Umweltexperten der Region sind wie Asher der Meinung, dass Naturkatastrophen nur durch nachhaltige Planung der Stadtentwicklung vermieden werden können.
Bevor die Überschwemmungen ihre Häuser wegspülten hatte Reenas Gemeinschaft jahrelang darum gekämpft, in sicherere Gebiete umgesiedelt zu werden. Jetzt haben sie ihre Kampagne für eine Entschädigung und dauerhafte Umsiedlung wiederaufgenommen. Die Regierung hat zwischenzeitlich provisorische Unterkünfte in der Nähe bereitgestellt.
Die Erinnerungen an die Flut machen Reena immer noch schwer zu schaffen. ”Ich habe Alpträume, in denen das Wasser nachts wiederkommt und alle meine Kinder und die ganze Gemeinde mitreißt", sagt sie. "Keiner entkommt."