Hitzige Debatte über NS-Vergangenheit
8. November 2012Auf den ersten Blick wirkt es fast ein wenig antiquiert: Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages debattieren 67 Jahre nach dem Ende der nationalsozialistischen Terrorherrschaft über die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit in Bundesministerien und Behörden. Und das an einem Tag, an dem die Bundesanwaltschaft in Karlsruhe Anklage gegen Neonazis erhebt, denen zehn Morde zwischen 2000 und 2007 zur Last gelegt werden. Das eine ist von erschreckender Aktualität, das andere, so scheint es, ist Geschichte. Doch die Vergangenheit taucht immer wieder auf.
Die Aufklärung der fremdenfeindlichen Mordserie tritt mit der Anklage gegen die mutmaßliche Täterin Beate Zschäpe und ihre Helfer in eine neue Phase ein. Für die Aufarbeitung der braunen Vergangenheit in westdeutschen Ministerien und Amtsstuben gilt: Sie ist trotz aller Fortschritte noch lange nicht abgeschlossen. Dieser Eindruck verfestigt sich beim Studium der 85 Seiten umfassenden Antwort der Bundesregierung auf eine Große Anfrage der Links-Fraktion im Bundestag.
Akten-Vernichtung hat Tradition
Diese Anfrage war Anlass für die Aussprache im Bundestag, bei der es immer wieder Bezugspunkte zum gegenwärtigen Neonazi-Terror gab. Im Fokus der Kritik standen dabei vor allem die Sicherheitsdienste. Kopfschütteln und Entsetzen löst heute wie in früheren Zeiten das Verschwinden wichtiger Akten aus. Zwangsläufig kommt der Verdacht auf, es sollten belastende Informationen vertuscht oder sogar Täter geschützt werden. Im Falle des 2011 aufgeflogenen Terrors des "Nationalsozialistischen Untergrundes" (NSU) ist das im Moment lediglich eine Vermutung, allerdings eine naheliegende. Beim Umgang mit Nazis nach 1945 ist es eine Tatsache.
Vor allem der Bundesnachrichtendienst (BND) spielte oft eine unrühmliche Rolle. So verschwanden noch in den späten 1990er Jahren Akten zum Massenmörder Alois Brunner. Der hochrangige SS-Mann war die rechte Hand Adolf Eichmanns, der an seinem Berliner Schreibtisch den Holocaust organisiert hatte und 1961 in Jerusalem zum Tode verurteilt wurde. Obwohl der BND Eichmanns Aufenthaltsort kannte, lebte er viele Jahre unbehelligt in Argentinien. Auch über den Kriegsverbrecher Klaus Barbie, der in Frankreich hunderte Juden in den Tod schickte, hielt der BND seine schützende Hand. Er tauchte wie Eichmann in Südamerika unter und war Mitte der 1960er Jahre sogar Agent des Nachrichtendienstes.
Opposition hofft auf Einlenken der Regierung
Dass Akten zu Barbie, Eichmann und anderen Kriegsverbrechern zum Teil noch immer unter Verschluss sind, kommentierten mehrere Redner mit Unverständnis. Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse von den Sozialdemokraten (SPD) appellierte an Konservative (CDU/CSU) und Freie Demokraten (FDP), sich einer Öffnung nicht zu verweigern. Kritik kam auch von Volker Beck, dem parlamentarischen Geschäftsführer der Grünen. Dass Akten mit NS-Bezug nicht veröffentlicht würden, um "die Arbeit unserer Geheimdienste zu schützen", könne nicht im öffentlichen Interesse stehen. Schon gar nicht angesichts der aktuellen Diskussion über den Rechtsextremismus in Deutschland, fügte Beck hinzu.
Jan Korte von den Linken sprach von der "zweiten Schuld" der Deutschen. Er spielte damit auf ein Buch Ralph Giordanos an, in dem der Publizist die Verdrängung und Leugnung der deutschen NS-Vergangenheit thematisiert. Der Unions-Abgeordnete Armin Schuster hielt Korte dagegen vor, einseitig die NS-Vergangenheit Westdeutschlands zu kritisieren. Auch in der DDR habe es Alt-Nazis in führenden Positionen gegeben, so Schuster.
Als Vorbild für Aufarbeitung gilt "Das Amt"
Fraktionsübergreifend wurde gewürdigt, dass sich immer mehr Ministerien und Behörden einer kritischen Aufarbeitung ihrer Geschichte stellten. Für Aufsehen sorgte das Ergebnis einer Historikerkommission um Eckart Conze und Norbert Frei über die Verstrickung des Auswärtigen Amtes in das verbrecherische Nazi-Regime. Auftraggeber für die schonungslose Analyse unter dem Titel "Das Amt und die Vergangenheit" war 2005 der damalige Außenminister Joschka Fischer (Grüne).
Inzwischen sind viele Ministerien und Behörden diesem Beispiel gefolgt und haben Forschungsprojekte angestoßen. Darunter sind das Bundeskriminalamt (BKA), der Bundesnachrichtendienst (BND) und das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV).
Die Bundesregierung unterstützt diese Forschungsarbeiten nach eigenem Bekunden "uneingeschränkt". Ihr sei daran gelegen, "dass die Ergebnisse dieser Arbeiten zu einem kritischen Diskurs in der Öffentlichkeit führen". Kritiker wie Jan Korte hegen indes Zweifel an der Unabhängigkeit der beauftragten Wissenschaftler. So mache die Bundesregierung Vorgaben für die Aufarbeitung der Geschichte des Verfassungsschutzes. Während der Projektphase müssten die Forscher auf öffentliche Stellungnahmen verzichten. Jede Äußerung müsse mit der Projektleitung im Bundesamt für Verfassungsschutz abgesprochen werden oder ausdrücklich erwünscht sein. "Das ist Zensur, das ist der Sache nicht angemessen", meint Korte.