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Holocaust an Sinti und Roma - "Die Jugend aufklären"

2. August 2024

Vor 80 Jahren wurden in Auschwitz in einer Nacht 4300 Sinti und Roma ermordet. Christian Pfeil hat den NS-Völkermord überlebt, später erlebte er rassistische Angriffe. Er warnt.

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Christian Pfeil im weißen Oberteil mit grauen Haaren und Brille steht in der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau an einem Mikrofon, im Hintergrund sind verschwommen Zäune und ziegelrote Gebäudereste zu erkennen
Christian Pfeil bei seiner Rede in der Gedenkstätte des ehemaligen Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau am 2. August 2022Bild: Jarosław Praszkiewic./Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma

Sie wehren sich vergeblich: Mütter mit kleinen Kindern, alte und kranke Menschen werden in der Nacht vom 2. auf den 3. August 1944 in die Gaskammern im Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau getrieben. Es ist das Ende des sogenannten "Zigeunerlagers", arbeitsfähige Gefangene wurden vorher in andere Lager gebracht.

Allein in dieser Nacht ermordet die nationalsozialistische SS etwa 4300 Menschen - ein Schreckenstag des Völkermords an den Sinti und Roma in Europa, dem Porajmos.

Blick auf das Gelände in der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau: zu sehen sind Zäune und aufragende Schornsteine, im Hintergrund das Eingangsgebäude von Birkenau mit einem Turm in der Mitte
Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau: Vom ehemaligen "Zigeunerlager" sind fast nur noch die Schornsteine der Baracken erhalten, in denen die Menschen unter unerträglichen Bedingungen eingesperrt wurdenBild: A. Grunau/DW

Vom nächsten Morgen berichtet die jüdische Ärztin Lucie Adelsberger: "Da kamen plötzlich zwei Kinder von drei und fünf Jahren aus ihrem Block, die, in ihre Decken eingemummelt, alles überschlafen hatten. Die beiden Kleinen hielten einander an der Hand, weinend ob ihrer Verlassenheit. Sie wurden nachgeliefert." Das heißt: Auch sie wurden ermordet.

Insgesamt tötet das nationalsozialistische Deutschland bis zu 500.000 Menschen aus der größten europäischen Minderheit - in Lagern und Gettos, durch Gas und Erschießungen, Hunger, Zwangsarbeit, Krankheiten und Medizinversuche.

Blick auf eine Karte von Europa im Zweiten Weltkrieg mit der Überschrift "Stätten des Völkermords an den Sinti und Roma". Es gibt zahlreiche Markierungen für Vernichtungslager, Konzentrations- und Nebenlager, Orte von Deportationen und Massenerschießungen
An unzähligen Orten im nationalsozialistisch besetzten Europa wurden Sinti und Roma verfolgt und ermordet - der Überblick ist unvollständig, denn es gibt noch viele Forschungslücken

Europäischer Holocaust-Gedenktag für Sinti und Roma 2024

2015 macht die Europäische Union den 2. August zum Europäischen Holocaust-Gedenktag für Sinti und Roma. An den Gedenkveranstaltungen zum 80. Jahrestag der Mordnacht nehmen neben Überlebenden und Angehörigen der Minderheit auch Politiker teil.

Mehrere Frauen halten im Gehen grün-blaue Roma-Flaggen mit rotem Rad ausgepannt über ihre Köpfe, im Hintergrund ist eine größere Menschenmenge zu sehen
Jedes Jahr am 2. August erinnern Sinti und Roma in der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau an den NS-Völkermord (Archivbild)Bild: Alik Keplicz/AFP/Getty Images

Als erste oberste Repräsentantin des deutschen Parlaments ist Bundestagspräsidentin Bärbel Bas dabei. Sie ließ vorab mitteilen: "Die Verfolgung der Sinti und Roma im Nationalsozialismus ist vielen immer noch nicht bekannt. Darum ist es mir sehr wichtig, beim Europäischen Holocaust-Gedenktag für Sinti und Roma zu sprechen - und dazu beizutragen, die Erinnerung an die Opfer wachzuhalten. Sie dürfen nicht vergessen werden."

Holocaust-Überlebender Christian Pfeil: "Ich bete, dass sich so etwas nicht wiederholt"

Neben Auschwitz gibt es in Europa unzählige weitere Orte der NS-Verfolgung. Wohl auch weil seine Familie im Gegensatz zu Verwandten nicht in Auschwitz landet, überlebt Christian Pfeil den Völkermord als Baby, zusammen mit seinen Eltern und Geschwistern. So oft wie möglich spricht der heute 80-Jährige über die Verfolgung, sagt er der DW: "Sonst wären die vielen Menschen umsonst gestorben."

Mindestens neun Frauen und Männer stehen bei den Vereinten Nationen in New York vor einer Wand mit Landkarten
26.1.2024: Christian Pfeil (3.v.r.) sprach zum Internationalen Holocaust-Gedenktag vor den Vereinten Nationen in New York und überreichte UN-Generalsekretär Antonio Guterres (4.v.l.) eine Einladung in die Gedenkstätte AuschwitzBild: Zentralrat Deutscher Sinti und Roma

Er spricht in Schulklassen, am Holocaust-Gedenktag in New York vor den Vereinten Nationen, in Berlin, Brüssel und der Gedenkstätte Auschwitz. Vier Kinder seines Großonkels wurden hier getötet. In seiner Heimatstadt Trier erinnern Stolpersteine an sie und weitere NS-Opfer. "Ich hoffe, dass die zukünftigen Generationen aus der Geschichte lernen und bete, dass sich so etwas nicht wiederholt", sagt er 2022 in der Gedenkstätte Auschwitz.

"Rassistische Tendenzen gibt es in ganz Europa", warnt er. Antiziganismus ist die Form des Rassismus, die sich gegen Sinti und Roma richtet. Christian Pfeil wendet sich an junge Menschen: "Deswegen müsst ihr euch stark machen für die Demokratie - und Antiziganismus, Antisemitismus und Rassismus entschieden widersprechen. Besucht die Gedenkstätten und Orte der Verfolgung und macht euch selbst ein Bild davon, was die Menschen durchgemacht haben."

Geburt im Getto: Hunger, Kälte und Gewalt

Die Eltern und Geschwister von Christian Pfeil werden am 16. Mai 1940 frühmorgens aus ihrer Wohnung geholt. Aus ihrer Heimatstadt Trier, wo der Vater mit Instrumenten gehandelt hat, deportiert man sie in ein Sammellager nach Köln, dann ins deutsch besetzte Polen. Die älteste Schwester Berta ist zwölf, der jüngste Bruder Ludwig noch keine drei Jahre.

Schwarzweiß Bild aus einem Sammellager für Sinti und Roma in Köln: mehrere Kinder sitzen auf Säcken mit Gepäck, hinter ihnen lehnt eine Gitarre
Mai 1940: Kinder aus der Minderheit der Sinti und Roma im Sammellager in Köln, aus dem sie die Nationalsozialisten ins deutsch besetzte Polen deportiertenBild: NS-Dokumentationszentrum Stadt Köln/Privatbesitz

Christian Pfeil wird Anfang 1944 im Getto Lublin geboren, ein winziger Säugling. Die ganze Familie hungert und leidet unter schwerer Zwangsarbeit und Scheinhinrichtungen, das haben ihm Eltern und Geschwister berichtet. Wenn die SS-Offiziere abends feiern, muss der Vater Musik machen. Dafür bekommt er Essensreste. So bringt er die Familie durch, sagt sein Sohn.

Kleidung oder Windeln gibt es nicht für den Säugling. In Stofffetzen gewickelt habe ihn seine Mutter mitgenommen zur Zwangsarbeit und neben sich in den Schnee gelegt. Er macht eine Pause, schluckt. Im Lager hätten Aufseher und SS weinende Kinder getötet. Seine Mutter sagte ihm später, sie habe gedacht: "Lieber erfrierst du bei mir, als dass die furchtbaren Menschen in der Baracke dich umbringen."

Schüler in der Gedenkstätte Auschwitz

"Es war ein Wunder, dass wir überlebt haben", unter diesem Titel lädt der Verein "AG Frieden" im April 2024 zu einem Vortrag von Christian Pfeil in seiner Heimatstadt Trier ein. Der Saal ist bis auf den letzten Platz besetzt, viele kommen nicht rein. Auf dem Podium bei Christian Pfeil sitzen auch Schüler vom Auguste-Viktoria-Gymnasium in Trier. Anfang des Jahres haben sie die Gedenkstätte Auschwitz besucht.

Blick auf eine Gruppe von jungen und älteren Menschen, die auf einer Bühne stehen und in die Kamera blicken
April 2024: Christian Pfeil (4.v.r.) bei einem Vortragsabend in seiner Heimatstadt Trier, an dem sich auch Schülerinnen und Schüler beteiligt habenBild: Giannina Marchioro

Yannic Lange (17) sagt der DW, es sei eine prägende Erfahrung gewesen. Er erwähnt die persönlichen Gegenstände der Gefangenen, Schuhe, Kleidung, Brillen, besonders aber den Raum, in dem Berge von abgeschnittenen Haaren liegen: "Wer da nicht weint… Es ist klar, dass man da völlig von den Emotionen mitgenommen wird und sowas nicht mehr vergisst." Zuhause in Trier begegnen die Schüler dem Überlebenden Christian Pfeil und hören den Bericht über seine Familie.

"Zweite Verfolgung" von Sinti und Roma nach Kriegsende

Familie Pfeil kehrt nach der Befreiung durch die Rote Armee nach Trier zurück, weil es ihre Heimat ist. Doch Diskriminierung und Verfolgung sind 1945 nicht vorbei, das betont Christian Pfeil. Seine Angehörigen sind schwerkrank, arbeitsunfähig. Die Familie ist auf staatliche Unterstützung angewiesen.

Ein schwarz-weißes Familienbild in einem Goldrahmen, eine größere Gruppe von Erwachsenen und Kindern steht und sitzt zusammen, eine Frau und ein Mann im Vordergrund haben die kleinsten Kinder auf dem Schoß, ein Mann hält eine Gitarre
Äußerlich unversehrt und doch tief verletzt: Nachkriegsbild der Familie von Christian Pfeil (2.v.l.), die den Holocaust an den Sinti und Roma überlebt hatBild: privat

Auf den Ämtern sitzen immer noch die Menschen, die in der Nazizeit für ihre Deportation verantwortlich waren. Bei ihnen müssen sie um Hilfe betteln. "Hitler-Köpfe", habe sein Vater sie genannt. Christian Pfeil hat ihn oft begleitet, weil sein Vater Analphabet war. "Die waren enttäuscht, dass wir noch am Leben sind", sagt sein Sohn.

Deutschland erkennt den rassistischen Völkermord an der Minderheit erst 1982 an. 2022 spricht Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier über das fortgesetzte Unrecht gegen Sinti und Roma nach dem Kriegsende 1945, die "zweite Verfolgung". Er bittet Sinti und Roma um Vergebung.

Sich behaupten gegen Antiziganismus und Neonazi-Angriffe

Christian Pfeil berichtet, wie er in seiner Schulzeit mit dem Z-Wort beschimpft und verdächtigt wird, wenn etwas wegkommt. In der Kirche darf er nicht Messdiener werden. Er habe immer versucht, sich zu behaupten: "Mittelmaß geht nicht als Sinto." Pfeil wird Sänger und Gastronom, führt ein Szenelokal, in dem bekannte Musiker auftreten. Dann eröffnet er ein Speiselokal im alten Bahnhof Trier Süd, hat wieder Erfolg. Happy End? Nein.

Der Südwestfunk zeigt in den 1990er Jahren einen Film, in dem er ein Lied gegen die Nazi-Diktatur in seiner Muttersprache Romanes singt (mit deutschen Untertiteln): "Großdeutschland, Heil Hitler - nie wieder". Es folgt Telefonterror, erinnert er sich: Morddrohungen, Beschimpfungen. Dann wird sein Lokal verwüstet, mit Hakenkreuzen und SS-Runen beschmiert. Einmal renoviert Christian Pfeil und öffnet wieder, doch ein zweiter Angriff zerstört alles. "In Trier gibt es keine Rechtsradikalen", habe ihm der damalige Bürgermeister gesagt.

"Da hat mich der Mut verlassen." Erst will er ins Ausland, doch dahin könnten seine älteren Geschwister nie kommen, weil sie geschlossene Räume nicht ertragen, nicht in Züge oder Flugzeuge steigen können. So führt er noch einige Jahre einen Landgasthof. Dann kehrt er nach Trier zurück, wo er 2024 den Ehrenbürgerbrief erhält.

Kampf gegen Antiziganismus

Viel hat sich verändert seit den 90er Jahren: Deutschland hat mit Mehmet Daimagüler einen Antiziganismus-Beauftragten. Er warnt vor Rassismus gegen die Minderheit und drängt auf gesetzliche Änderungen. Bundesregierung und Bundesländer haben eine ständige Kommission für das Leben von Sinti und Roma eingesetzt. Zugleich werden mehr antiziganistische Vorfälle bekannt. Die Melde- und Informationsstelle Antiziganismus (MIA) verzeichnete für 2023 mit über 1200 Fällen fast doppelt so viele wie im Vorjahr, darunter zehn Fälle extremer Gewalt. In 80 Fällen sei der Antiziganismus von der Polizei ausgegangen. 2024 meldet eine Trierer Sinti-Familie Hakenkreuze an ihrer Tür.

Vor einer Reihe von türkisen Metallstelen liegen Blumenkränze. Davor stehen zwei Männer, die sich die Hand geben und den Kameras zuwenden
16.05.2024: Christian Kling (li.), Vorsitzender des Landesverbands der Sinti und Roma in Rheinland-Pfalz, und Triers Oberbürgermeister Wolfram Leibe am Mahnmal für die verfolgten und ermordeten Sinti und Roma in TrierBild: Andrea Grunau/DW

Trier hat Wohnungen für viele Sinti-Familien gebaut. Direkt neben dem Trierer Dom erinnert seit 2012 ein Mahnmal an die Verfolgung der Sinti und Roma. Von hier aus starten Rundgänge des Vereins "Buntes Trier" zu Orten der Verfolgung.

Zur Gedenkfeier am Jahrestag der Deportation, dem 16. Mai, mahnt Christian Kling, Vorsitzender des Landesverbands der Sinti und Roma in Rheinland-Pfalz: "Wer seine Geschichte nicht kennt, der ist dazu verdammt, sie zu wiederholen." Er betont, dass die Verfolgten Deutsche waren. 80 Jahre, sagt er der DW, "das ist ein Katzensprung in der Geschichte der Menschheit".

Enzyklopädie zum NS-Völkermord an Sinti und Roma

Die Geschichte kennen - dazu braucht es Forschung. "Wenn man sich mit Auschwitz und der Verfolgung von Sinti und Roma beschäftigt, muss man leider feststellen, dass es sehr wenig Forschung gibt", sagt Karola Fings der DW. Die Historikerin an der Forschungsstelle Antiziganismus der Universität Heidelberg hofft, dass der 80. Jahrestag ein Anlass ist, Defizite aufzuholen.

Blick in ein dickes, aufgeschlagenes Buch, eng beschrieben mit Namen, Jahreszahlen und Orten
Das "Gedenkbuch - Die Sinti und Roma im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau" enthält die Namen von fast 21.000 Menschen aus elf Ländern Europas, die nach Auschwitz-Birkenau deportiert und dort fast alle ermordet wurden. Es erfasst aber nicht alle Ermordeten - viel ist noch unerforschtBild: Andrea Grunau/DW

Ein Anfang ist gemacht. Fings leitet das internationale Projekt "Enzyklopädie des NS-Völkermordes an den Sinti und Roma in Europa". Das Online-Nachschlagewerk soll auf 1000 Artikel auf Deutsch und Englisch anwachsen. Es informiert über Tatorte, Lebenswege und die Verfolgung in ganz Europa.

"Wir müssen die Jugend aufklären"

Auschwitz, New York, Trier - wo immer Christian Pfeil spricht, wendet er sich an Jugendliche.

Gruppenbild: in der Mitte Christian Pfeil mit grauen Haaren, um ihn herum stehen Schülerinnen und Schüler, alle lächeln in die Kamera
Das Interesse junger Menschen an der Geschichte der Sinti und Roma macht Christian Pfeil Mut, sagt er. Auch in New York traf er eine SchulklasseBild: Sascha Höhn

"Der Rechtsradikalismus ist in Europa auf dem Vormarsch", warnt er: "Wir müssen uns dagegen wehren. Wir müssen die Jugend aufklären!"

Welche Botschaft nehmen die Jugendlichen mit? Yannic Lange antwortet, "dass wir engagiert und informiert bleiben sollen und natürlich, dass wir wählen gehen". Der Schüler stimmt zu: "Man muss einfach aufpassen, wie sich die Gesellschaft entwickelt. Man muss auch aufpassen, dass man seinen Teil zu der richtigen Entwicklung beiträgt."