Holocaust-Gedenken: Filmisches Mahnmal
27. Januar 2017Ein heißer Sommertag. Im Bild: die Gedenkstätte Dachau in der Nähe von München. Auf dem weitläufigen Gelände stand früher eines der ersten Konzentrationslager der Nationalsozialisten, 1933 eingerichtet. Häftlinge aus ganz Europa wurden hier ermordet.
Die Menschen vor der Kamera von Regisseur Sergei Loznitsa sind leicht bekleidet: Shorts, T-Shirts, knappe Röcke, Sandalen, wie kurz vor dem Betreten eines Ausflugsdampfers. Fast alle haben ihre Smartphones gezückt, Fotokameras sind die Ausnahme. Die Selfiesticks werden bereits vor dem Eingang in Stellung gebracht, vor dem schmiedeeisernen Tor mit der Aufschrift "Arbeit macht frei". Das allseits beliebte Selbstportrait vor besichtigtem Hintergrund ist offensichtlich auch hier möglich - zum schnellen Versenden in die unersättliche Bilderwelt der Sozialen Medien.
Der ukrainische Dokumentarfilmer Sergei Loznitsa hat einen Film über dieses touristische Geschehen gemacht: Massentourismus an einem Ort, der eher stilles Gedenken vermuten lässt. Sein Dokumentarfilm beobachtet nur, kommentiert das Gesehene nicht. Längst hat die Tourismusindustrie diese historischen Orte für das Eventmarketing entdeckt. Das habe ihn erstaunt, sagt er. Aus allen Ländern der Erde kommen mittlerweile Touristen, Neugierige, Geschichtsinteressierte, um die Überreste der ehemaligen Konzentrationslager zu besichtigen. Gedreht hat Loznitsa an insgesamt sechs Gedenkstätten, in Auschwitz war er nicht.
Im Film sind nur Szenen aus Dachau und Sachsenhausen zu sehen. Wer kommt überhaupt im Sommer dahin? Sehr unterschiedlich, antwortet Loznitsa im DW-Interview. Aus Ost-Europa habe er allerdings nur wenige Gruppen angetroffen. "Es kommen mehr Reisegruppen aus Amerika, Kanada, Australien, Neuseeland oder aus China und Japan. Und auch aus Spanien und Italien, aus Argentinien und Brasilien. Das war interessant."
Zu seinem Arbeitsprinzip gehört, dass er nicht mit den Menschen interagiert, die er für seine kargen, puristischen Dokumentarfilme mit der Kamera beobachtet. Es habe aber auch kaum jemand versucht, mit ihm ins Gespräch zu kommen, sagt er. "Wenn wir an so einem Ort drehen, dann verstecke ich die Kamera nicht. Man muss nur gewisse Regeln befolgen und eine bestimmte Form von Energie erzeugen - dann funktioniert das auch einfach so."
Selfie vor Verbrennungsöfen
Loznitsa gehört zu den besten Regisseuren seiner Zunft, seine Filme laufen international auf den wichtigsten Wettbewerben und Festivals: in Venedig, Rio, Mumbai, Toronto, auf der Berlinale oder wie zuletzt als Siegerfilm auf dem Dokumentarfilmfestival Leipzig. Das lässt er durchaus selbstbewusst durchblicken. "Jeder Dokumentarfilmer weiß, wie man das macht. Nur einmal kam jemand bei den Dreharbeiten in der Gedenkstätte auf uns zu, normalerweise macht das aber niemand."
Der Ukrainer versteht sein Handwerk meisterlich. 93 Minuten Dokumentarfilm in nur knapp 30 Einstellungen. Minutenlang spielt sich Unglaubliches vor der Kamera ab, Besucher geistern als Smartphone-Halter durch die früheren Häftlingsbaracken. Selfies vor den Verbrennungsöfen des Krematoriums sind besonders beliebt. "Austerlitz" ist ein erschütternder Film. Weil er die Realität so abbildet, wie sie ist - an einem ganz normalen Sommertag in einer deutschen Gedenkstätte.
Viele Tage und Wochen hat Loznitsa vorher allein dort verbracht, beobachtend, herumgehend, bevor er seine Kamera an jeweils ausgewählten Orten platzierte. In allen Lagern habe er erlebt, dass dieses merkwürdig unbedarfte Verhalten der Touristen, angesichts der Mordmaschinerie der Nazis, nichts mit ihrer Nationalität oder mit dem Alter zu tun hat. "Das hat mich überrascht", sagt er. "Dieses sehr spezielle Verhalten gehört zu allen Menschen, die dorthin als Touristen kommen. Nur bei denen, die vielleicht noch den Zweiten Weltkrieg miterlebt haben, ist das anders."
Als Regisseur kommentiert Sergei Loznitsa natürlich allein durch die Kameraperspektive oder durch Montage, aber das Wichtigste für ihn ist der Ton, hautnah und gruselig: fröhlich plappernde Touristen, die mit professionellen Audioguides durch die "Highlights" der Gedenkstätte spazieren, montiert wie ein Radiohörspiel. "Es ist eine sehr tiefgehende Erfahrung für den Zuschauer", sagt er im DW-Gespräch. "Mit diesem Sound, dieser Tonebene, kannst Du tragische Momente kreieren und damit die Bedeutung des Films völlig verändern."
Kino = Kunst + Mathematik
Geboren wurde Sergei Loznitsa 1964 in Baranovichi, früher Sowjetunion, heute Belarus. Er wuchs in Kiew in der Ukraine auf und schloss 1987 ein Mathematikstudium am dortigen Polytechnischen Institut ab. Kybernetik und Künstliche Intelligenz waren lange Zeit seine Welt, seine Filme haben auch heute manchmal den Charakter einer Versuchsanordnung. Als er Ende Zwanzig ist, löst sich der Totalitarismus der sowjetischen Gesellschaft in Chaos und später in Umbruch auf. Im Dezember 1991, nur wenige Monate nach dem Putsch, ist das "Kapitel Sowjetunion" zu Ende - auch für den jungen Mathematiker. Er bewirbt sich spontan am Staatlichen Institut für Kinematographie in Moskau und wird angenommen.
"Ich hatte die Hoffnung, dass die politische Entwicklung es mir erlauben würde, endlich die Geschichten zu erzählen, die jahrzehntelang unterdrückt und verboten waren", erzählt er im DW-Interview. "Ich merkte einfach sofort, dass ich dort an dem Filminstitut, wo schon Sergeij Eisenstein Lehrer war, meinem Platz gefunden hatte. Das Kino gab mir die Möglichkeit, meine Geschichten zu erzählen." Seine Filme, vor allem die Dokumentarfilme, sind stark formalistisch aufgebaut. Jedes Detail einer Bildeinstellung, die bei ihm scheinbar unbewegt minutenlang dauern kann, erzählt auch die Geschichte hinter diesen ästhetischen Bildern. Nichts entgeht dem Regisseur, alles bezieht er in die magnetische Sogwirkung seiner Szenen gezielt ein.
Filme gegen das Vergessen
Sergei Loznitsa achtet streng auf ausgewogenen Symmetrie, auch bei der Montage von "Austerlitz": "16 Minuten nach Filmbeginn ist Stille. Und 16 Minuten vor Ende ist auch wieder Stille", erklärt er. Kurze Momente der Besinnung, des Innehaltens. Unmerklich, aber wirksam. Sein Film ist auch ein Mahnmal, über die Unfähigkeit zu Trauern und Erinnerung angemessen zu bewahren. Der offizielle Gedenktag an die Befreiung von Auschwitz (27.01.2017), der im Deutschen Bundestag längst Tradition ist, ringt jedes Jahr um eine würdige Form, die auch Jüngere anspricht.
Zur Zeit arbeitet der Filmemacher an einem großen Spielfilmprojekt über das Massaker von Babi Jar im September 1941, einem der schlimmsten Kriegsverbrechen der Nazis. In dieser ukrainischen Schlucht ermordeten SS und Einsatzgruppen über 33.000 Juden aus dem nahe gelegenen Kiew. Für Losnitsa ist dieser Film enorm wichtig. Im Grunde war "Austerlitz" nur ein langsames Anpirschen, eine Vorarbeit zu dem Babi-Jar-Projekt.
Auschwitz steht heute in der Erinnerung der Nachgeborenen als Synonym für den systematischen Massenmord der Nazis an den Juden Europas. Am Jahrestag der Befreiung von Auschwitz wird dieser Orts- und Gedenkstättenname wieder weltweit durch die Medien gehen. Das Massaker von Babi Jar geschah bereits ein halbes Jahr vor den Beschlüssen der Wannseekonferenz am 20. Januar 1942 und der darauffolgenden Tötungsmaschinerie im Vernichtungslager Auschwitz. Der Name Babi Jar ist nur wenig bekannt. Regisseur Sergei Loznitsa will mit seinem neuen Film auch diesen Teil der Geschichte vor dem Vergessen bewahren.
Der Filmtitel "Austerlitz" ist dem letzten Roman des Schriftsteller H.G. Sebald entlehnt. Der Dokumentarfilm des ukrainischen Regisseurs Sergei Loznitsa wurde u.a. mit Mitteln der Beauftragten für Angelegenheiten der Kultur und der Medien (BKM) produziert. Er läuft seit 15.12.2016 in ausgewählten Kinos. Im Frühjahr 2017 wird er im Museum of Modern Art (MOMA) in New York präsentiert.