Holocaust-Gedenken: "Es kann keinen Schlussstrich geben"
27. Januar 2023Mit einer feierlichen Gedenkstunde hat der Bundestag am Holocaust-Gedenktag an die Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung erinnert. Zum ersten Mal standen dabei verfolgte Homosexuelle und weitere Angehörige sexueller Minderheiten im Mittelpunkt. Schwule Männer, aber auch lesbische Frauen und Transsexuelle wurden im Gefängnis und in Konzentrationslagern gequält.
Erst 1994 wurde § 175 abgeschafft
Ihr Leid war 1945 nicht zu Ende: Der von den Nazis verschärfte Strafrechtsparagraf 175, der sexuelle Handlungen unter Männern unter Strafe stellte, galt in der Bundesrepublik bis 1969 unverändert fort. Erst 1994 wurde er vollständig abgeschafft.
"Wer nicht den nationalsozialistischen Normen entsprach, lebte in Angst und Misstrauen", sagte Bundestagspräsidentin Bärbel Bas in der Holocaust-Gedenkstunde im Bundestag. "Am härtesten traf es die vielen Tausend Frauen und Männer, die aufgrund ihrer Sexualität - teils unter Vorwänden - in Konzentrationslager deportiert wurden." Viele dieser Menschen waren allgegenwärtiger Gewalt demnach ungeschützt ausgesetzt. "Viele wurden für medizinische Experimente missbraucht", sagte Bas.
Holocaust darf nicht relativiert werden
Auf die Anerkennung als Opfer der Nationalsozialisten hätten sexuelle Minderheiten lange vergebens gewartet. Auch mit Blick auf die heutige Zeit mahnte Bas, bei Diskriminierungen queerer Menschen genauer hinzusehen. "Queer-feindliche Straftaten nehmen zu", sagte die SPD-Politikerin. "Schwule, Lesben und Trans-Personen werden beleidigt, bedrängt und angegriffen."
Nachdrücklich mahnte Bas zum Gedenken an die im Namen des Nationalsozialismus begangenen Verbrechen. "Mich beunruhigen auch Versuche, die Einzigartigkeit des Holocausts zu relativieren", sagte die Bundestagspräsidentin. "Es kann keinen Schlussstrich geben", stellte sie klar. Antisemitismus und Antiziganismus, Rassismus und andere Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit nähmen wieder zu. Fünf antisemitische Straftaten würden im Schnitt jeden Tag in Deutschland registriert. "Das ist eine Schande für unser Land", so Bas.
Die 1942 in Amsterdam geborene Holocaust-Überlebende Rozette Kats erinnerte in einer emotionalen Rede an ihr Schicksal. Sie sagte, kurz vor ihrem sechsten Geburtstag habe ihr Pflegevater ihr erklärt, dass ihre Eltern in Auschwitz ermordet wurden, weil sie Juden waren. Kats wuchs bei Adoptiveltern auf, die sie mit dem Namen Rita als deren eigenes Kind ausgaben. Vor dem Hintergrund dieser Selbstfindung und Identitätssuche setzt die Niederländerin sich auch für Menschen ein, die wegen ihrer sexuellen Orientierung oder geschlechtlichen Identität benachteiligt sind.
Schwule Männer litten auch nach 1945
Als Vertreter der queeren Community sprach Klaus Schirdewahn aus Mannheim, der selbst 1964 nach dem in der Nazi-Zeit verschärften Paragraphen 175 verhaftet worden war. Noch immer sei die queere Community Bedrohungen und Benachteiligungen ausgesetzt: "Dass ich jetzt vor Ihnen sprechen konnte, ist noch nicht selbstverständlich", sagte Schirdewahn.
Die Schauspieler Jannik Schümann und Maren Kroymann stellten die nationalsozialistische Verfolgung sexueller Minderheiten anhand der Lebensgeschichten von Karl Gorath und Mary Pünjer vor. Gorath überlebte die Konzentrationslager Neuengamme und Auschwitz, Pünjer wurde in der Tötungsanstalt Bernburg ermordet.
Die offen transsexuell lebende Abgeordnete Nyke Slawik sprach von einer "sehr bewegenden Gedenkstunde". Der Kampf um Gleichberechtigung gehe weiter, sagte die Grünen-Politikerin der Deutschen Welle.
Bundespräsident Roman Herzog hatte 1996 den 27. Januar, den Tag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz im Jahr 1945, zum Tag des Gedenkens für die Opfer des Nationalsozialismus erklärt.
nob/as/uh/jj/tl (dpa, afp, kna, epd)