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KriminalitätDeutschland

"Rechtsextremismus ist die größte Bedrohung"

4. Mai 2021

Bundesinnenminister Seehofer beklagt einen Höchststand bei Gewalttaten der politisch motivierten Kriminalität - und freut sich über einen Fahndungserfolg beim "NSU 2.0".

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Bundespressekonferenz | Horst Seehofer stellt Fallzahlen politisch motivierter Kriminalität 2020 vor
Bild: Kay Nietfeld/dpa/picture alliance

Elf Todesopfer politisch motivierter Kriminalität registrierte das Bundeskriminalamt (BKA) 2020. Allein neun waren es beim Attentat eines Rechtsextremisten auf eine Shisha-Bar in Hanau (Hessen). Beunruhigend findet der für die Sicherheit in Deutschland zuständige Innenminister Horst Seehofer (CSU) die Entwicklung aber auch deshalb, weil die Zahlen in fast allen Bereichen nach oben gehen.

Mit weit über 44.000 registrierten Delikten wurde ein neuer Negativrekord in der seit 2001 geführten Statistik aufgestellt. Wobei 85 Prozent in die Bereiche Volksverhetzung, Beleidigung und Propaganda fallen.

"Es gibt klare Verrohungstendenzen in unserem Lande", beklagt Seehofer in Berlin die Entwicklung angesichts einer Zunahme der Straftaten um 8,5 Prozent. Die Zahlen seien ein Gradmesser für die Stimmung in der Gesellschaft. Das gelte insbesondere für 2020, "weil durch die Pandemie eine weitere Polarisierung der politischen Diskussion zu beobachten ist".

Doch bevor der Innenminister näher auf die Radikalisierung der Corona-Proteste eingeht, verweist er auf einen Trend, der sich verfestige: Nach dem Mord an dem hessischen Regierungspräsidenten Walter Lübcke und dem Anschlag auf die Synagoge in Halle sei Hanau der dritte rechtsterroristische Anschlag in wenigen Monaten gewesen.

Hanau - eine Stadt trauert

"Das zeigt, dass der Rechtsextremismus die größte Bedrohung für die Sicherheit in unserem Lande ist." Fast 53 Prozent aller politisch motivierten Straftaten sind dem rechten Spektrum zuzuordnen. Trotz all der Zahlen, "die mich bedrücken", freut sich Seehofer aber auch über einen aktuellen Fahndungserfolg.

"NSU 2.0": Rolle der Polizei "noch nicht vollständig geklärt"

Und zwar die Festnahme eines Verdächtigen, der seit 2018 unter dem Pseudonym "NSU 2.0" per Mail, Fax und SMS Drohnachrichten an Menschen mit und ohne Migrationshintergrund verschickt haben soll. Unter den Betroffenen ist neben Politikerinnen und Journalisten die Rechtsanwältin Seda Basay-Yildiz, die im Prozess gegen die Terrorgruppe "Nationalsozialistischer Untergrund" (NSU) Opfer-Angehörige vertreten hat.

Ungeklärt ist aber weiterhin, welche Rolle Polizisten in Frankfurt am Main beim "NSU 2.0" gespielt haben. Denn Namen, Telefonnummern und andere persönliche Daten bedrohter Personen waren von Polizei-Computern der Banken-Metropole abgerufen worden.

"Das ist noch nicht vollständig geklärt", sagt BKA-Präsident Holger Münch und bittet angesichts der laufenden Ermittlungen weiter um Geduld. Es bleibe abzuwarten, "was die Auswertung der Datenträger erbringt". Gemeint ist der Computer des in Berlin festgenommenen mutmaßlichen Täters, der kein Polizist sein soll.

Corona-Proteste von "Querdenkern" im Fokus

Bei aller Erleichterung über diesen Erfolg im Kampf gegen den Rechtsextremismus sieht Innenminister Seehofer aber insgesamt ein großes Eskalationspotential. Und das hat aus seiner Sicht auch mit dem Protest gegen die Corona-Politik zu tun, den er grundsätzlich in Schutz nimmt: Versammlungen gegen die Corona-Maßnahmen seien Ausdruck gelebter Demokratie, die man nie in Zweifel ziehen dürfe.

Aber: "Für die Sicherheitsbehörden ist es problematisch, dass sich neue Koalitionen zwischen einfachen, normalen Demonstranten und Anhängern von Verschwörungsideologien, Impfgegnern, Esoterikern, Reichsbürgern, Selbstverwaltern und sonstigen Extremisten bilden."

Suttgart | Demonstration gegen Corona Auflagen
Demonstration der "Querdenker" auf dem Marienplatz in StuttgartBild: Christoph Schmidt/dpa/picture alliance

Angesichts dieser Gemengelage hält es Seehofer für richtig und wichtig, dass der Verfassungsschutz die Szene, allen voran die "Querdenker"-Bewegung, sehr genau in den Blick nehme. Das gilt auch für andere Bereiche politisch motivierter Kriminalität wie Linksextremismus und Islamismus.

Relativ gesehen haben Straftaten aus dem linken Milieu doppelt so stark zugenommen wie aus dem rechten. Allerdings ist die absolute Zahl nur knapp halb so groß. Seehofers Fazit: Es gebe eine "insgesamt hohe Bedrohungslage".

Infografik Fallzahlen Politisch motivierte Kriminalität in Deutschland 2020

Lob und Kritik von der Bundesfachstelle "Linke Militanz"

Wie aussagekräftig die Zahlen zu politisch motivierter Kriminalität sind, ist durchaus umstritten. Alexander Deycke von der Bundesfachstelle "Linke Militanz" in Göttingen (Niedersachsen) hält sie einerseits für eine "wertvolle Erhebung, die es ermöglicht, langfristige Trends zu erkennen". Damit verfüge Deutschland im internationalen Vergleich über ein "sehr detailreiches Instrument der Lageeinschätzung".

Andererseits sei es aber stets notwendig, die Zahlen kritisch zu hinterfragen, teilt Deyke auf DW-Anfrage mit. Denn es handele sich um eine "Eingangsstatistik", in die alle polizeilich aufgenommen Straftaten eingingen - "ungeachtet des weiteren Verfahrensverlaufs".

Die Klassifizierung einer Straftat obliege den bearbeitenden Beamten unter Würdigung der tatbegleitenden Umstände. "Für Polizeiexterne lassen sich die einzelnen Zuordnungen nicht überprüfen", bedauert Deycke. Dass es auch eine Kategorie "Nicht zuzuordnen" gebe, deute an, wie schwierig sich die Zuordnung im Einzelnen zuweilen gestalte.

Ausschläge in den Fallzahlen von Straftaten, die dem linksradikalen Spektrum zugeordnet werden, gingen oftmals einher mit Protest gegen Großereignisse wie internationalen Gipfeltreffen. Der besonders gewalttätige G20-Gipfel in Hamburg 2017 war so ein Fall.

Schwere Ausschreitungen bei Protesten gegen G20-Gipfel

Es spreche vieles dafür, den Anstieg der Fallzahlen 2020 mit Konflikten rund um die Corona-Proteste zu erklären, meint Deycke. Allerdings sieht er darin einen Widerspruch zu Seehofers Befund, auf Demonstrationen sei eine Verschiebung von Eskalationen hin zu heimlich geplanten Aktionen von Kleingruppen zu verzeichnen.

"Leider bleiben die Sicherheitsbehörden hier Belege schuldig." Gewissheit, ob derartige Befunde zutreffen, brächte nur eine Detailanalyse der einzelnen Fälle, die sich hinter dem statistischen Material verbergen. "Leider hat polizeiexterne Forschung keinen Zugriff darauf."

Zivilorganisationen registrieren viel mehr Straftaten

Kritik an der Statistik kommt auch von mehreren Zivilorganisationen. Judith Porath vom Verband der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt (VBRG) ist beunruhigt über die große Diskrepanz zwischen den eigenen Zahlen zu extremistischen Straftaten und denen der Strafverfolgungsbehörden.

Während das Bundeskriminalamt 2019 auf 0,9 Angriffe pro 100.000 gekommen sei, habe ihre Organisation 3,6 Angriffe registriert. BKA-Präsident Münch bezeichnet diesen Widerspruch auf DW-Nachfrage als "Dilemma", mit dem man am Ende aber leben müsse. 

* Dieser Artikel wurde wegen einer falschen Prozent-Zahl in der Grafik aktualisiert.

Deutsche Welle Marcel Fürstenau Kommentarbild ohne Mikrofon
Marcel Fürstenau Autor und Reporter für Politik & Zeitgeschichte - Schwerpunkt: Deutschland