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KonflikteNahost

Humanitäre Lage in Gaza ist "katastrophal"

Silja Thoms
4. November 2023

Medikamente, Wasser, Treibstoff - in Gaza mangelt es an allem. Hilfsorganisationen berichten von überlasteten Krankenhäusern und nicht ausreichenden Hilfsgütern. Ein Überblick über die humanitäre Lage in Gaza.

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Drei Männer sitzen auf Trümmern
Trauer und Frustration bei den Überlebenden des bombardierten Flüchtlingslagers DschabaliyaBild: Bashar Thaleb/AFP

Seit dem terroristischen Angriff der militant-islamistischen Hamas auf Israel am 7. Oktober reagiert Israel mit Vergeltungsschlägen gegen die Gruppe in Gaza, die von westlichen Ländern und weiteren Staaten als Terrororganisation eingestuft wird. Währenddessen hat sich auch die Lage der Zivilbevölkerung in Gaza verschärft. Philippe Lazzarini, Leiter des UN-Hilfswerks für Palästinaflüchtlinge (UNRWA), beschreibt die humanitäre Lage im Gazastreifen als "katastrophal". Medikamente, Lebensmittel, Wasser und Treibstoff würden knapp, tausende verzweifelte Menschen seien in Panik in die Hilfslager und Verteilungszentren des UNRWA gekommen. 

Hilfslieferungen werden laut internationalen Organisationen dringend benötigt - doch nur wenige kommen durch. So berichten es mehrere Hilfsorganisationen der DW. Gaza ist weitgehend abgeriegelt und die Lage unübersichtlich. Viele Informationen können von Journalisten nicht unabhängig geprüft werden. Für Informationen über die humanitäre Lage in Gaza ist die DW daher größtenteils auf die Angaben von Hilfsorganisationen angewiesen. 

Neue Hilfskräfte von außen können laut Christof Johnen, dem Leiter für Internationale Zusammenarbeit des Deutschen Roten Kreuzes, nicht in den Gazastreifen gelangen: "Viele Palästinenser und Palästinenserinnen leisten vor Ort als Freiwillige gerade einen Großteil der Hilfe und tun dies unter enormen Gefahren und Risiken", sagte er im Gespräch mit der DW. Im Folgenden beantwortet die DW die wichtigsten Fragen zur humanitären Situation im Gazastreifen.

Wie kommen Hilfslieferungen nach Gaza? 

Die internationalen Hilfslieferungen aus verschiedenen Ländern werden zunächst nach Ägypten geliefert, wo sie in Lastwagen üblicherweise an den Grenzübergang Rafah gefahren werden. Dort sollen die Güter in einen anderen Lastwagen auf der Gaza-Seite geladen und weiter transportiert werden. Am Zielort sollen UN-Organisationen sowie andere Hilfsorganisationen wie das Rote Kreuz sie entgegen nehmen, um sie an die Krankenhäuser und UN-Einrichtungen vor Ort zu verteilen. 

Erschwert wird die Lieferung über Land allerdings dadurch, dass Straßenzüge auf der Gaza-Seite teilweise zerstört sind oder Trümmer von zerstörten Häusern auf dem Weg liegen. So sind laut Johnen Hilfslieferungen des Deutschen Rotes Kreuzes und des Palästinensischen Roten Halbmondes in den Norden Gazas aufgrund der Zerstörungen nicht mehr möglich. 

Mitglieder von Hilfsorganisationen stehen auf Lastwagen und stapeln Hilfsgüter
Laut Angaben der Vereinten Nationen ist das Ausmaß an Hilfslieferungen noch "unzureichend" Bild: Ashraf Amra/Anadolu Agency/picture alliance

Hinzu kommt, dass Israel Bedingungen für die Durchführung der Hilfslieferungen stellt. So will Israel die Garantie haben, dass die Hilfsgüter nicht in die Hände der Hamas fallen. Besonders Treibstoff, so fürchtet Israel, könnte von der Hamas für militärische Zwecke genutzt werden. Israel hat in den vergangenen zehn Tagen zwar mehr als 200 Lastwagen mit Lebensmitteln und Medikamenten aus Ägypten nach Gaza passieren lassen, Treibstoff war darin aber nicht enthalten.

Nach Angaben mehrerer Hilfsorganisationen reichten die bisherigen Hilfen nicht annähernd aus. Toby Fricker, ein Sprecher von UNICEF, sagte im Gespräch mit der DW, dass täglich mindestens 100 LKW-Ladungen in den Gazastreifen transportiert werden müssten, um die mehr als zwei Millionen Menschen dort zu versorgen. 

Wie läuft die Kommunikation der Menschen im Gazastreifen? 

Die palästinensische Telekommunikationsagentur Paltel teilte mit, dass die Internet- und Telefonnetzwerke in der vergangenen Woche im gesamten Gazastreifen fast völlig zusammengebrochen waren. Laut Paltel war die Ursache dafür die Bombardierung durch die israelische Armee. Diese Information lässt sich aber nicht unabhängig überprüfen.

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und weitere Hilfsorganisationen wie das UN-Hilfswerk UNICEF, das UN-Entwicklungsprogramm UNDP, das UN-Welternährungsprogramm (WFP), Save the Children und der Norwegische Flüchtlingsrat (NRC) hatten nach eigenen Angaben in der vergangenen Woche teilweise bis zu 24 Stunden den Kontakt zu ihren Mitarbeitenden verloren. Wenige Tage nachdem die Internet- und Telefonnetzwerke in Teilen wieder hergestellt waren, gab es laut dem globalen Netzüberwachungsdienst Netblocks.org offenbar erneut einen stundenlangen Blackout. Für die meisten der 2,4 Millionen Einwohner des Gebiets bedeutet dies einen "Totalausfall der Telekommunikation", wie Netblocks.org auf der Social-Media-Plattform X schreibt. 

Die Internetausfälle erschweren die Arbeit der Hilfsorganisationen. Nur notdürftig könne über Funkverbindungen mit den Teams kommuniziert werden, sagt etwa Christof Johnen vom DRK. Hinzu kommt, dass Menschen in Not nicht mehr anrufen und die Notärzte somit auch nicht die erforderliche medizinische Erstversorgung leisten können.

Daher positionieren Hilfskräfte Krankenwagen an verschiedenen Orten in Gaza. Menschen versuchen dann, die Hilfskräfte zu informieren, wo Verletzte sind. "Aber das sind natürlich extrem schwierige Umstände, die vor allem auch gefährlich für die Helfenden sind, weil es keine Sicherheitsgarantie und keinen Schutz gibt", sagte Johnen.

Wie können Menschen in Gaza noch an Trinkwasser kommen? 

"Die Wasserversorgung ist in der Tat sehr prekär und sehr notdürftig", sagte Johnen der DW. Auch die Hilfsorganisation Save the Children bestätigte der DW auf Anfrage: "Viele Menschen sind gezwungen, auf verunreinigte Wasserquellen zurückzugreifen, dadurch könnte es zu einem Ausbruch von durch Wasser übertragbare Krankheiten kommen." Diese könnten für Kinder tödlich sein. 

Es gibt nach Angaben des UN-Nothilfebüros OCHA drei israelische Wasserleitungen, die jeweils den Norden, das Zentrum und den Süden Gazas versorgen. Nach dem Angriff der Hamas, hatte Israels Energieminister, Israel Katz, angekündigt, dass keine Wasserleitung geöffnet werde, bis die aus Israel entführten Menschen nach Hause zurückkehren. Zwischenzeitlich hatte man die Wasserleitungen laut israelischen Angaben danach teilweise wieder in Betrieb genommen. In einem am 2. November von UNRWA veröffentlichten Berichtheißt es hingegen, dass über keine der drei zuvor von Israel betriebenen Leitungen noch Wasser fließe.

Ein Mann füllt Wasser aus dem Meer in große gelbe Flaschen
Menschen in Gaza haben kaum Zugang zu sauberem TrinkwasserBild: Mustafa Hassona/Anadolu/picture alliance

Die Menschen in Gaza sind zudem auf Meerwasserentsalzungsanlagen, Brunnen und Wasserreservoirs angewiesen. Doch auch hier ist die Versorgung schwierig. So ist das Wasser aus Brunnen nicht gereinigt. "Eigentlich ist es schmutziges Wasser und oft sehr, sehr salzig", so Toby Fricker. 

Die einzige natürliche Wasserquelle des Gazastreifens ist das Küsten-Aquifer-Becken. Ein Aquifer ist eine Gesteinsschicht, die Grund- oder Mineralwasser enthält und es weiterleiten kann. Dieses Becken erstreckt sich entlang der östlichen Mittelmeerküste von der nördlichen Sinai-Halbinsel in Ägypten über den Gazastreifen bis nach Israel. Doch nur etwa vier Prozent des Wassers aus dem Aquifer sind laut Daten der Weltbank trinkbar. Menschen warten aktuell oft stundenlang an den wenigen vorhandenen Wasserstationen, um mitgebrachte Flaschen aufzufüllen oder von abgefüllten Flaschen von den Hilfslieferungen versorgt zu werden. 

Nach Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation gibt es derzeit in Gaza pro Person nur noch drei Liter Wasser am Tag. Der minimale Bedarf pro Person sei aber 15 Liter für Trinken, Kochen und Körperhygiene, so Fricker.  

Welche Folgen hat der Mangel an Treibstoff für Menschen in Gaza? 

Anfang Oktober teilte die palästinensische Elektrizitätsgesellschaft mit, dass das einzige Kraftwerk im Gazastreifen wegen Treibstoffmangels abgeschaltet worden sei und kein Strom mehr erzeugt werden könne. Israel warf der im Gazastreifen herrschenden Hamas unterdessen vor, rund "eine Million Liter" Treibstoff auf Lager zu haben, diesen jedoch der Zivilbevölkerung nicht zur Verfügung zu stellen. Unabhängig lassen sich die Angaben nicht überprüfen. 

Doch klar ist, dass Treibstoff für Menschen im Gazastreifen elementar ist, da dieser unter anderem für die Stromversorgung benötigt wird. Das UNRWA bekräftigte mehrfach Forderungen nach mehr Treibstofflieferungen. Krankenhäuser brauchen Treibstoff zum Beispiel für Notstromaggregate und Generatoren, um überlebenswichtige Maschinen am Laufen zu halten.

Das Welternährungsprogramm (WFP) warnte zudem, dass die Bäckereien, mit denen es zusammenarbeitet, ohne zusätzlichen Treibstoff kein Brot mehr herstellen könnte, da Weizen ohne Treibstoff nicht mehr zu den örtlichen Bäckereien gebracht werden könne. Das WFP teilte auf eine schriftliche Anfrage mit, dass inzwischen nur noch 20.000 Menschen täglich mit Brot versorgt werden könnten. Zu Beginn der Krise seien es noch 200.000 Menschen pro Tag gewesen.

Auch der Zugang zu Trinkwasser ist ohne Treibstoff erschwert. Denn der Treibstoff wird benötigt, um Strom zu generieren, mit dem dann Trinkwasser aus Entsalzungsanlagen gewonnen werden kann oder Wasserpumpen betrieben werden können. Da es derzeit aber keine stabile Stromversorgung gebe und kein Treibstoff eingeführt werde, könne auch kein sauberes Wasser generiert werden, so Johnen. Einschätzen, wie viel Treibstoff es in Gaza derzeit noch gibt, könne er aber nicht.

Das UNRWA teilte auf Anfrage der DW mit, dass seit etwa einem Monat kein neuer Treibstoff mehr ins Land gekommen sei. Mittlerweile hat das israelische Militär laut Informationen von Nachrichtenagenturen aber die Bereitschaft signalisiert, Treibstoff an Krankenhäuser zu liefern. 

Wie sieht die Situation in Krankenhäusern in Gaza aus? 

Christian Katzer, Geschäftsführer von Ärzte ohne Grenzen Deutschland, schreibt auf der Seite der Hilfsorganisation: "Unsere Chirurg*innen haben uns berichtet, dass zum Teil ohne größere Anästhesie operiert werden muss. Es gibt keine richtigen Schmerzmittel mehr für die Menschen. Es ist unvorstellbar, unter welchen Bedingungen da Gesundheitsversorgung geleistet wird, es ist inakzeptabel."

Mohammed Obeid, ein palästinensischer Chirurg der Organisation, der im Al-Shifa-Krankenhaus in Gaza-Stadt arbeitet, berichtete auf der Seite von Ärzte ohne Grenzen von einer Operation auf dem Boden eines Korridors. "Wir amputierten den Fuß eines 9-jährigen Jungen, fast ohne Betäubung. Der Anästhesist hält seinen Mund offen, damit er nicht erstickt. Das ist gerade unser Bestes. Mehr können wir nicht tun." In Krankenhäusern mangele es an allem - sowohl an Medikamenten wie Schmerzmitteln als auch an Treibstoff. 

Ein palästinensischer Krankenwagen an einem Tor
Verletzte Palästinenser konnten nach der Öffnung des Grenzübergangs zur Behandlung nach Ägypten gebracht werdenBild: Mohammed Talatene/dpa/picture alliance

Auch Christoph Johnen vom DRK beschreibt der DW die Bedingungen in den Krankenhäusern. "Die Teams berichten von ganz, ganz schlimmen Szenen, von furchtbaren Verletzungen, davon, dass sie überhaupt nicht mehr die Kapazität haben, immer schnell dort zu sein, wo Menschen Hilfe benötigen." Es sei eine völlige Überlastung des Systems. "Die Teams in den Krankenhäusern sind alle erschöpft. Sie sind überwältigt davon, dass es so viele verletzte Menschen gibt, die in die Krankenhäuser kommen, die sie mit immer weniger Ressourcen versorgen müssen." Hinzu kommt, dass auch Menschen, die nicht verletzt sind, in den Krankenhäusern Zuflucht suchen - in der Hoffnung, dort vor Raketeneinschlägen geschützt zu sein. 

Erstmals seit dem Großangriff der militant-islamistischen Hamas war am Mittwoch der Grenzübergang zu Ägypten geöffnet worden. Dutzende verletzte Palästinenser konnten so nach Ägypten gebracht werden, um dort in verschiedenen Krankenhäusern behandelt zu werden.

Wie können sich die Menschen in Gaza fortbewegen?  

Weil sie keinen Sprit für ihre Autos mehr haben, müssen Menschen in Gaza auf Alternativen umsteigen: so bewegen sie sich im Gazastreifen laut Johnen vom DRK teilweise zu Fuß fort oder nutzen Pferde, Maultiere oder Eselskarren. 

Ein Mann sitzt auf einem Eselskarren und fährt an zerstörten Häusern in Gaza vorbei
Aus Mangel an Alternativen steigen Menschen in Gaza teilweise auf Eselskarren um Bild: Hatem Ali/AP/picture alliance

Vor allem nach Israels Evakuierungs-Aufforderung, versuchten viele Menschen im Gazastreifen von Norden nach Süden zu gelangen. Doch nicht alle könnten sich überhaupt noch fortbewegen, so Johnen. Krankenhäuser beispielsweise ließen sich nur schwer evakuieren. Rettungs- und Hilfskräfte berichteten laut Informationen des Deutschen Roten Kreuzes, dass sie die Verletzten eigenen Angaben zufolge nicht zurücklassen wollten und könnten.