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PolitikHaiti

Bandengewalt und Lynchmorde - Haiti im Chaos

26. April 2023

UN-Generalsekretär Antonio Guterres hat den Einsatz internationaler Kräfte gefordert, um die Eskalation der Gewalt im ärmsten Land der westlichen Hemisphäre zu beenden. Über einen Staat im Ausnahmezustand.

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Mehrere Menschen, darunter ein Mann mit Kind im Arm, laufen mutmaßlich in Deckung, daneben bewaffnete Polizisten
Alltag in Haiti: Bewaffnete Polizisten und Väter, die mit ihrem Kind im Arm vor Gewalt fliehenBild: Odelyn Joseph/AP/picture alliance

"Moun pam", sagt Annalisa Lombardo, wenn man sie fragt, warum sie seit 15 Jahren in Haiti lebt und trotz all der Katastrophen nie das Land verlassen hat. Wegen "moun pam", was auf Kreolisch so viel bedeutet wie "meinen Menschen". Sie habe sich in die Haitianer verliebt, sagt die Italienerin. Das Land in der Karibik nennt sie ihr Zuhause. Die Landesdirektorin der Welthungerhilfe in Haiti will bleiben, selbst wenn sie am Dienstag beschlossen hat, das Büro in Port-au-Prince erst einmal aus Sicherheitsgründen geschlossen zu halten.

"Es ist für meine Kollegen und mich derzeit einfach zu gefährlich, auf die Straße zu gehen. Früher war es ja schon riskant wegen der Entführungen, der Überfälle, verirrter Kugeln oder wenn es Zusammenstöße zwischen Bandenmitgliedern und der Polizei gab", schildert Lombardo die Situation, "aber wenn heute jemand glaubt, dass man irgendwie verdächtig aussieht, riskiert man, ohne weitere Gründe gelyncht zu werden."

Sicherheitslage wie in einem bewaffneten Konflikt

Wie am Montag, als mehr als ein Dutzend mutmaßlicher Bandenmitglieder von einem Mob gelyncht wurden - auf offener Straße, am helllichten Tag. Die aufgebrachten Menschen zwangen ihre Opfer laut haitianischen Medien, aus einem Bus auszusteigen, steinigten sie und verbrannten sie schließlich bei lebendigem Leib. Es ist der vorläufige Höhepunkt einer Gewaltspirale, weshalb António Guterres die Entsendung einer internationalen Eingreiftruppe fordert. Der UN-Generalsekretär beklagte, die Unsicherheit in der Hauptstadt Port-au-Prince habe "ein Niveau erreicht, das mit Ländern in bewaffneten Konflikten vergleichbar ist". 

UN Generalsekretär Antonio Guterres / New York
Schon im vergangenen Oktober hatte UN-Generalsekretär Guterres eine Spezialeinheit für Haiti ins Spiel gebrachtBild: Fatih Aktas/AA/picture alliance

Auch Annalisa Lombardo sieht mittlerweile keinen anderen Ausweg mehr. Zusammen mit anderen Hilfsorganisationen wie Care, Plan International oder World Vision hat die Welthungerhilfe vor einigen Wochen einen verzweifelten Hilferuf an die internationale Gemeinschaft für mehr Unterstützung gesendet. "Wir fordern vor allem eine internationale humanitäre Intervention, aber die Wiederherstellung der Rechtsstaatlichkeit ist eine Notwendigkeit. Die Sicherheit der Stadtviertel, einiger strategischer Punkte wie der Tankstellen und der Hauptverkehrsstraßen muss gewährleistet werden", sagte Lombardo der DW.

Armenhaus von Amerika

Fast die Hälfte der 11,5 Millionen Haitianerinnen und Haitianer ist auf humanitäre Hilfe angewiesen. Die Landesdirektorin der Welthungerhilfe kann viele Zahlen herunterbeten, die das ganze Ausmaß des Elends in dem bitterarmen Land verdeutlichen. Fast 90 Prozent der haitianischen Landbevölkerung lebt laut Weltbank unterhalb der Armutsgrenze, jeder Vierte sogar in extremer Armut. Die Cholera ist wieder aufgeflammt, bisher mit 670 Toten und 35.000 Verdachtsfällen, unter ihnen vor allem Kinder. Und nur etwa jeder zweite Haushalt außerhalb der Städte hat Zugang zu einer grundlegenden Trinkwasserversorgung und verbesserten Latrinen, also sanitäre Einrichtungen, die Menschen vor Kontakt mit ihren Ausscheidungen schützen.

Haiti Port-au Prince | Frau mit Kind im Slum Cite Soleil vor einer Wellblechhütte
Im Slum von Cité Soleil in Port-au-Prince wohnt diese Frau in einem Wellblechverschlag, nachdem Banden ihr Haus in Brand gesetzt habenBild: Odelyn Joseph/AP/Dpa/picture alliance

Als wäre die humanitäre Situation nicht besorgniserregend genug, hat die Gewalt ebenso extreme Ausmaße angenommen. Vor allem die Hauptstadt Porte-au-Prince befindet sich im Würgegriff von marodierenden Banden. Die UN-Sonderbeauftragte für Haiti, María Isabel Salvador, ist nach New York geflogen, um in der Zentrale ihren Bericht über die aktuelle Situation des Landes vorzustellen. Was dort drinsteht, ähnelt einem einzigen Alptraum.

"Die Zahl der gemeldeten Tötungsdelikte stieg um 21 Prozent: 815 Fälle zwischen dem 1. Januar und 31. März gegenüber 673 im letzten Quartal 2022. Außerdem wurden 637 Entführungen im ersten Quartal 2023 registriert, was einem Anstieg von 63 Prozent entspricht, verglichen mit 391 in den letzten drei Monaten des Jahres 2022. 22 Polizisten wurden 2023 von Gangs ermordet."

Vergewaltigungen, Entführungen, Geflüchtete

Der Bericht spricht von Scharfschützen, die von Dächern auf Menschen in ihren Häusern oder auf der Straße schießen. Von einem 16-jährigen Mädchen, das von mehreren Gangmitgliedern am helllichten Tag vergewaltigt wurde. Von Kindern, die in der Nähe ihrer Schulen entführt werden, dann als Boten in den Kämpfen Munition transportieren, Waffen laden oder auch selbst Angriffe verüben müssen.

Porträt Annalisa Lombardo Welthungerhilfe
"Die Sicherheit der Menschen und ihre Lebensgrundlagen sollten an erster Stelle stehen" - Annalisa LombardoBild: Deutsche Welthungerhilfe

Es geht um Kliniken wie das Albert-Schweitzer-Krankenhaus, das für die Versorgung von schätzungsweise 700.000 Menschen zuständig ist, aber vor zwei Monaten aufgrund der hohen Unsicherheit seine Dienste einstellen musste. Um 130.000 Binnenflüchtlinge, die über das gesamte Stadtgebiet von Port-au-Prince verstreut sind. Und um Hunderte schwangere und stillende Frauen, die nach ihrer Flucht gen Osten in die Dominikanische Republik wieder nach Haiti abgeschoben wurden.

Banden die neuen Machthaber

Haiti, das vor 13 Jahren bereits das weltweit verheerendste Beben des 21.Jahrhunderts überstehen musste - nach offiziellen Angaben kamen dabei 316.000 Menschen ums Leben, befindet sich erneut in einer beinahe ausweglosen Notlage. Der Auslöser dafür war ein Attentat im Juli 2021, bei dem der damalige Präsident Jovenel Moïse in seiner Privatvilla ermordet wurde. Der Übergangsregierung von Premierminister und Staatschef Ariel Henry fehlt es an Rückhalt in der Bevölkerung, Proteste gehören zur Tagesordnung, sieben große Banden-Zusammenschlüsse nutzten laut haitianischen Behörden das Machtvakuum. Die Vereinten Nationen schätzen, dass diese Gangs 60 Prozent von Port-au-Prince kontrollieren. Glaubt man der Bevölkerung, ist es längst die ganze Stadt. Auch Henry hat deshalb schon vor einem halben Jahr eine bewaffnete internationale Einheit angemahnt.

Der haitianische Staats- und Regierungschef Ariel Henry steht an einem Rednerpult
Im Volk unbeliebt: der haitianische Staats- und Regierungschef Ariel HenryBild: Richard Pierrin/AFP

"Das neue Staatsoberhaupt wurde während seiner gesamten Amtszeit heftig angefeindet. Von einer ziemlich vielfältigen, unzusammenhängenden und anarchischen Bewegung, und diese Anarchie ebnete den Weg für eine in Haiti leider übliche Praxis, um sich durchzusetzen - nämlich die Bewaffnung von Banden bis zu dem Punkt, an dem die Situation völlig außer Kontrolle geriet", sagt Annalisa Lombardo.

Haiti im Begriff der "Somalisierung"

Die Landesdirektorin der Welthungerhilfe hat die letzten Nächte deshalb kaum ein Auge zumachen können, immer wieder holten sie Schusswechsel aus dem Schlaf. Das gehört mittlerweile fast zum Alltag von Port-au-Prince. Wie auch Videos wie das, welches sie neulich zugeschickt bekam. In einer Grundschule in der Nähe der Hauptstadt waren die Wände mit Kugeln durchlöchert, die Kinder lagen in völliger Panik auf den Boden.

Die Zukunftsaussichten "ihrer Menschen" in Haiti? Düster, sagt Annalisa Lombardo. "Wir bewegen uns mit rasender Geschwindigkeit auf mein Worst-Case-Szenario zu. Jemand hat hier den Begriff 'Somalisierung' geprägt, um die aktuelle Situation zu beschreiben: eine Fragmentierung des Staatsgebietes gepaart mit einem völligen Versagen der Regierung. Mit allen Konsequenzen in Bezug auf Armut und Verletzung der Menschenrechte."

Porträt eines blonden Manns im schwarzen Hemd
Oliver Pieper DW-Reporter und Redakteur