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Mit Leidenschaft lernen

Sabine Damaschke29. Oktober 2012

Die Welt von morgen braucht Entdecker, Gestalter und Tüftler, meint der Göttinger Hirnforscher Gerald Hüther. Deshalb sollten die Schulen vor allem eines fördern: Begeisterung fürs Lernen.

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Der Hirnforscher Gerald Hüther (Foto: Franziska Hüther)
Prof. Gerald HütherBild: Franziska Hüther

Im Informationszeitalter ist Kreativität gefragt. Es nützt den Menschen nicht mehr viel, auswendig gelerntes Wissen einfach nur abzuspeichern. Eigene Visionen und Ideen sind gefragt. Das meint der Göttinger Professor für Neurobiologie, Gerald Hüther. Um junge Menschen auf die Herausforderungen der Globalisierung vorzubereiten, müssen Schulen Wissen anders vermitteln. Wie das gehen kann, will der bekannte Hirnforscher jetzt mit einer neu gegründeten Schul-Initiative zeigen.

DW: Herr Hüther, Sie beschäftigen sich schon seit vielen Jahren mit dem Thema Lernen und haben dazu auch eine ganze Menge veröffentlicht. Wie ernst nehmen denn die Schulen Ihre Erkenntnisse als Hirnforscher?

Gerald Hüther: Viele Schulen nehmen das sehr ernst. Manche empfinden es auch ein bisschen als Einmischung. Doch fast alle sehen, dass die Hirnforschung in den letzten Jahren Erkenntnisse zutage gefördert hat, die bedenkenswert sind.  Früher dachte man, dass die Hirne der Kinder sich erst allmählich vernetzen, indem sie etwas lernen. Doch nach unseren Forschungen ist es eher umgekehrt. Die Vernetzungen werden zuerst hergestellt und von diesen Vernetzungen bleibt dann das stehen und wird das stabilisiert, was ein Kind in seiner jeweiligen Lebenswelt tatsächlich zu nutzen, aktivieren und stabilisieren Gelegenheit hat. Das bedeutet für die Schulen, sie müssen das Kunststück hinbekommen, Kinder für das, was sie nach Ansicht der Lehrenden lernen sollten, zu interessieren und zu begeistern.

Das Stichwort Begeisterung fällt bei Ihnen oft, wenn Sie über das Lernen reden. Aber das verbinden in Deutschland - und vermutlich weltweit - nur wenige Kinder mit der Schule. Was passiert denn im Hirn, wenn mit Begeisterung gelernt wird?

Immer dann, wenn ein Kind richtig spürt, dass es etwas gut hinbekommt, eine Herausforderung meistert und etwas selbst gestalten kann, geht das diesem Kind unter die Haut. Und dann geht das Lernen mit Gefühlen einher. Im Hirn werden die sogenannten emotionalen Zentren aktiviert. Das sind Zellgruppen im Mittelhirn, die wunderschöne lange Fortsätze haben, und an den Enden dieser Fortsätze werden dann sogenannte neuroplastische Botenstoffe ausgeschüttet. Diese wirken dann fast wie Dünger auf die Vernetzungen und auf die Nervenzellen, die man im Zustand der Begeisterung gerade eben benutzt hat, um irgendwas besonders gut hinzukriegen. Das ist der Grund, weshalb man all das, was man mit Freude und viel Engagement tut, weil es einem wirklich wichtig ist, auch so gut lernt. Da wird man schnell viel besser.

Zwei Kinder spielen im Kindergarten mit Bauklötzen (Foto: dpa)
Mit Begeisterung bei der Sache ...Bild: picture-alliance/dpa

In der Schule wie überhaupt im Leben müssen wir uns aber auch mit Dingen beschäftigen, die uns nicht sehr interessieren. Ist es überhaupt möglich, immer so zu lernen, dass es unter die Haut geht?

Das wäre neurobiologisch das, was wir anstreben müssten. Eine Schule, die nicht den Schülern versucht etwas beizubringen, sondern eine Schule, in der die Schüler eingeladen sind, sich all das Wissen, was es in dieser Welt gibt, auch selbst anzueignen. Und das werden die nur dann tun, wenn ihnen das unter die Haut geht, wenn sie das wichtig finden. Und deshalb ist möglicherweise viel, viel wichtiger als Didaktik und Methodik des Unterrichts die Frage: Wie können wir Bedingungen in der Schule herstellen, dass Schüler sich dort eingeladen, ermutigt und inspiriert fühlen, das dort zur Verfügung gestellte Wissen, sich auch anzueignen.

Hängt die Fähigkeit zu lernen nicht auch von genetischen Faktoren ab?  Einstein und Goethe war das Talent in die Wiege gelegt, aber anderen Menschen eben nicht.

Ja, das ist so eine Vorstellung aus dem vorigen Jahrhundert. Doch die genetischen Programme sorgen bei allen Menschen dafür, dass im Hirn ein Überschuss an Vernetzungen aufgebaut wird, und zwar ungefähr ein Drittel mehr, als am Ende noch übrig ist, wenn der Mensch erwachsen geworden ist. Das bedeutet, in jedem Kind ist mehr angelegt als das, was am Ende herauskommt. Allerdings haben manche Kinder offenbar die Chance gehabt, bestimmte Vernetzungen komplexer herauszuformen als andere. Weil nun jedes Kind einen anderen Körper hat – und das ist genetisch- strukturiert sich auch das Hirn anhand dieser unterschiedlichen Körper in jeweils unterschiedlicher Weise. Deshalb kommt jedes Kind einzigartig zur Welt, mit ganz besonderen Voraussetzungen. Auf alle Fälle aber mit einem Hirn, das ganz optimal genau für diesen Körper passt.

Ein kleiner Junge spielt Klavier (Foto: Fotolia/pete pahham)
In einem Kind stecken viele TalenteBild: Fotolia/pete pahham

Das bedeutet aber doch auch, dass gemeinsames Lernen wie das, was wir Jahrhunderte lang in der Schule kennengelernt haben – alle müssen den gleichen Stoff beherrschen – überhaupt nicht möglich ist.

Das gemeinsame Eintrichtern gleicher Wissensinhalte ist nicht möglich. Das stimmt. Aber gemeinsames Lernen hat über die gesamte Menschheitsgeschichte immer stattgefunden. Es ist nur fragwürdig, wenn wir in unseren Schulen homogenen Gruppen von Schülern, also Gleichaltrigen, bestimmtes Wissen beibringen. Die menschheitsgeschichtliche Erfahrung lehrt uns, dass Kinder das meiste dann gelernt haben, wenn sie in altersgemischten Gruppen, also jahrgangsübergreifend, lernen konnten.

Wie stehen Sie mit Ihren Thesen zum Lernen denn eigentlich international da? Es gibt Länder wie China, in denen die Schulen nach wie vor auf starres Auswendiglernen setzen, die damit aber Pisa-Gewinner sind. Konterkariert das nicht Ihre Thesen?

Nein, denn die Hirnforschung zeigt, dass Lernprozesse nur dann nachhaltig im Hirn verankert werden können, wenn Kinder eingeladen, ermutigt und inspiriert werden, sich dieses Wissen selbst aneignen zu wollen. Natürlich kann man das auch mit sehr primitiven Methoden erreichen, nämlich mit Belohnungen und Bestrafungen. In China haben wir zum Beispiel eine Tradition, dass dort Kinder fast alles tun, um ihre Eltern zufrieden zu stellen. Deshalb sind sie auch bereit, 14 Stunden am Tag für die Schule zu arbeiten und schneiden entsprechend gut in den internationalen Leistungstests ab. Aber sie lernen nicht, weil sie sich wirklich für Englisch, Mathe und Deutsch interessieren, sondern um diese guten Leistungen hervorzubringen. Mit dem katastrophalen Nebeneffekt, dass mittlerweile immer mehr Kinder in den Selbstmord gehen. Das macht auch den ersten Bildungspolitikern in China große Sorgen.

Vier Mädchen lesen im Lübecker Kinderliteraturhaus (Foto: dpa)
Lesen macht Spaß!Bild: picture-alliance/dpa

Was wir uns wünschen sollten sind aber gute Leistungen - natürlich auch bei Pisa-, die eines nicht kaputt machen: die Begeisterung und Leidenschaft der Schüler am eigenen Entdecken und Gestalten. Menschen, die die Lust auf das eigene Gestalten und Entdecken verloren haben, oder die das nur noch aus egozentrischen Motiven heraus machen, werden in der Welt des 21. Jahrhunderts keine Zukunft haben.

Sie haben jetzt sogar eine eigene Initiative unter dem Titel "Schule im Aufbruch" gegründet. Was wollen Sie damit erreichen?

Unser Ziel ist es, dass Eltern, Lehrer, Schüler und auch die Schulleitungen vor Ort ein Bündnis schmieden und sich gemeinsam auf den Weg machen, um die Lern- und Beziehungskultur in der Schule zu verändern. Kinder sollen die Lust am eigenen Lernen und am eigenen Entdecken und Gestalten nicht verlieren. Wir wollen eine andere Kultur des miteinander Lernens und des miteinander Gestaltens entwickeln.

Das hat vor über 100 Jahren bereits die Reformpädagogik versucht. Doch das deutsche Bildungssystem sortiert Kinder immer noch aus, arbeitet mit starren Lehrplänen und Frontalunterricht.

Ich bin sehr froh, dass die Ansätze der Reformpädagogik sich heute als sehr kompatibel mit dem erweisen, was die moderne Hirnforschung zutage gefördert hat. Vermutlich konnte sie sich nicht flächendeckend durchsetzen, weil man kreative und gestalterische Menschen im letzten Jahrhundert nicht gebraucht hat. Im Maschinenzeitalter war eher wichtig, dass Menschen funktioniert haben. Mit umfassend gebildeten Persönlichkeiten, die sich von anderen nichts einreden lassen, die wissen, wo sie hin wollen und sich mit anderen zusammen tun, um ihre Welt zu gestalten, hat man im vorigen Jahrhundert nichts anfangen können.

Eine Gruppe von Kindern verschiedener Nationen und Hautfarben (Foto: picture-alliance/chromorange
Die Gestalter von morgenBild: picture-alliance/chromorange

Doch heute ist es nicht mehr wichtig, dass man aus der Schule kommt und alles auswendig weiß. Es geht darum, in einer hoch komplexen Welt sein eigenes Leben zu gestalten, Verantwortung für sich selbst, die anderen und diese Welt zu übernehmen.

Das heißt, Sie sind optimistisch, dass es nicht weitere 100 Jahre dauern wird, bis wir in Deutschland ein neues Schulsystem bekommen.

Ich bin ein bisschen frech und verkünde hier in Deutschland, dass es in sechs Jahren solche Schulen, wie wir sie heute noch kennen, nicht mehr geben wird. Was jetzt in den Betrieben und in den Universitäten gebraucht wird, sind junge Menschen, die begeisterte Entdecker und Tüftler und Gestalter sind. Und die vor allen Dingen gelernt haben, dass man sich gemeinsam mit anderen auf den Weg machen muss.

Das Gespräch führte Sabine Damaschke.