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KriminalitätDeutschland

"Identify Me": Aufklärung für 22 ermordete Frauen in Europa

29. August 2023

Ihre Tötung liegt Jahrzehnte zurück - doch bis heute kennen die Ermittler nicht einmal ihre Namen. Dank einer Interpol-Kampagne gibt es erste Hinweise auf 22 in Deutschland, Belgien oder den Niederlanden getötete Frauen.

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Interpol Kampagne "Identify Me"
Die "Identify Me"-Kampagne, unterstützt von Interpol - der 30. August ist der Internationale Tag der VerschwundenenBild: Interpol

Wer ist die Frau, die ein Motorradfahrer im Juni 1997 in einem Wald in der Nähe von Hagen fand, und die vorher vergewaltigt, gewürgt, anschließend mit Benzin übergossen und angezündet worden war? Wer ist die Frau, die im Oktober 2001 in einem Moorgebiet in der Nähe von Köln gefunden wurde, und die dort schon so lange lag, dass nur noch ein Skelett von ihr übrig blieb? Und wer ist die Frau, deren Leiche 2002 in einem Bremer Weser-Yachthafen angespült wurde?

Drei Frauen, die eines gewaltsamen Todes starben, bei denen aber bis zum heutigen Tag nicht klar ist, wer sie sind. Das Bundeskriminalamt will sich damit nicht zufriedengeben. Und hat deswegen zusammen mit der niederländischen und der belgischen Polizei die Kampagne "Identify Me" ("Identifiziere mich") ins Leben gerufen, der sich auch die internationale Polizeiorganisation Interpol angeschlossen hat. Weltweit wird jetzt nach Hinweisen auf insgesamt 22 unbekannte weibliche Opfer von Gewaltverbrechen gefahndet, die in den vergangenen Jahrzehnten in einem der drei Nachbarländer gefunden wurden.

"Dies ist das erste Mal, dass Interpol Informationen aus den 'Black Notices' veröffentlicht, die normalerweise den nationalen Polizeibehörden vorbehalten sind, um die Öffentlichkeit zu sensibilisieren, zur Identifizierung dieser Frauen beizutragen und den für ihre Ermordung verantwortlichen Verbrecher vor Gericht zu stellen", heißt es bei Interpol auf Anfrage der DW.

Interpol vermutet internationalen Hintergrund

Eine Premiere also, die in Deutschland zusätzlich öffentlichkeitswirksam von der Fernsehsendung unterstützt wird, die die TV-Institution schlechthin in Sachen Verbrechensbekämpfung ist. "Aktenzeichen XY…ungelöst" rekonstruiert seit 1967 im deutschen Fernsehen ungeklärte Kriminalfälle und jetzt auch die Morde an den sechs in Deutschland gefundenen Opfern. Zwar konnte noch keine Frau aus der Kampagne identifiziert werden, aber die Hinweise werden immer mehr.

"Seit dem Start der Kampagne sind mehr als 500 Nachrichten eingegangen, von denen einige wertvolle Informationen enthielten. Alle diese ungelösten Fälle können einen internationalen Hintergrund haben, zum Beispiel dass die Frauen nicht aus dem Land stammen, in dem die Leiche gefunden wurde, oder dass sie Opfer von Menschenhandel sein könnten", so Interpol.

Identifizierung der Schlüssel, um Täter zu finden

Auch bei den zuständigen Ermittlungsstellen vor Ort häufen sich die Hinweise, erzählt Anja Allendorf vom Bundeskriminalamt gegenüber der DW. Ungeklärte Kriminalfälle wie diese, die teils schon Jahrzehnte zurücklegen, gelten als sogenannte Cold Cases. Doch immer wieder gelingt es den Ermittlern, nach einer gefühlten Ewigkeit eine neue Spur zu finden.

Bundesinnenminister Faeser und BKA-Präsident Münch
Holger Münch, Leiter des Bundeskriminalamtes, mit Bundesinnenministerin Nancy FaeserBild: Nadja Wohlleben/Reuters

Wie jüngst in Schweinfurt: 45 Jahre nach dem Mord an einer 18-Jährigen wurde ein Tatverdächtiger verhaftet. Für die Frauen von "Identify Me" bedeutet das: Können sie identifiziert werden, ist das der Schlüssel, um später auch Täter oder Täterin zu überführen, so Allendorf.

"Die Identifizierung des Opfers ist natürlich Grundlage für weitere Ermittlungsansätze. Erst danach können weitere Ermittlungen in Richtung Tat oder Täter aufgenommen werden. Erst dann weiß man, woher die Frau tatsächlich stammt, wo sie sich möglicherweise zum Tatzeitpunkt aufgehalten hat, in welchem Umfeld sie gelebt oder gearbeitet hat."

Die meisten Gewaltverbrechen gegen Frauen finden tatsächlich im familiären Umfeld statt. Allein in Deutschland gibt es laut Bundeskriminalamt täglich einen polizeilich registrierten Tötungsversuch an einer Frau. Fast jeden dritten Tag stirbt eine Frau durch die Hand ihres Partners oder Ex-Partners. In anderen europäischen Staaten liegen die Zahlen teils deutlich höher, allerdings gibt es keine europaweit einheitliche Statistik hierzu. 

Fokus der Kampagne erst auf der Identifizierung der Opfer

Bei den 22 Fällen geht das Bundeskriminalamt aber davon aus, dass die ermordeten Frauen aus Osteuropa, Afrika oder Asien stammen und den größten Teil ihres Lebens nicht in dem Staat verbracht haben, in dem sie getötet wurden. Dass keine Vermisstenanzeigen existieren, ist für Allendorf zumindest ein deutlicher Hinweis dafür, dass sie in Belgien, den Niederlanden und Deutschland keine intensiveren Kontakte hatten. Ihr ist es wichtig zu betonen, dass der Fokus der Kampagne zunächst nicht auf der Täter-Ermittlung, sondern der Opfer-Erkennung liege.

"Man darf auch nicht vergessen, dass es bei der Identifizierung der Opfer natürlich auch um die Benachrichtigung der Angehörigen geht. Es ist für uns ein ganz wichtiges Kriterium, dass die Familien die Möglichkeit haben, auch um diese Frauen, Mütter oder Töchter zu trauern und dass die Opfer nicht in namenlosen Gräbern liegen."

Neue technologische Möglichkeiten zur Spurensuche

Dass Cold Cases überhaupt nach Jahrzehnten noch gelöst werden können, hat viel mit den neuen technologischen Möglichkeiten zu tun. Bei "Identify Me" wurde den Opfern aus Deutschland endlich ein Gesicht gegeben, mit den aufgefundenen Schädeln in hochspezialisierten Instituten eine sogenannte Gesichtsweichteilrekonstruktion durchgeführt, erzählt die BKA-Beamtin. So könne die Öffentlichkeit die Opfer nun wiedererkennen. Und dann ist da noch die DNA-Analyse.

Gesichtsrekonstruktion bei der Operation "Identify Me"
Gesichtsrekonstruktion bei der Operation "Identify Me"Bild: Interpol

"Wir haben seit den späten achtziger Jahren die Möglichkeit, DNA aus dem Gewebe, den Zähnen und den Knochen zu extrahieren und ein Profil der Leiche zu erstellen. In unserer 1992 eingerichteten Datenbank sind die DNA-Profile sowohl von vermissten Personen als auch von unbekannten Leichen enthalten", so Allendorf. Die DNA-Profile würden auch an die internationale DNA-Datenbank von Interpol in Lyon weitergeleitet. "So können wir sehen, ob es einen Treffer gibt, das DNA-Profil der Leiche also mit einer vermissten Person übereinstimmt."

Sogar ein halbes Jahrhundert später Mordopfer identifiziert

In den USA sorgte jüngst der Fall einer ermordeten Frau für Aufsehen, deren Identität sogar nach über einem halben Jahrhundert geklärt werden konnte. 1969 war sie im US-Bundesstaat Florida, eingewickelt in eine große Plastiktüte, erwürgt in einem großen schwarzen Koffer entdeckt worden.

Jetzt rollten die Ermittler den Cold Case wieder auf und fanden zufällig eine Haarprobe, die nie untersucht worden war. Durch das DNA-Profil konnten sie die damals 41-Jährige Sylvia June Atherton identifizieren und sogar lebende Verwandte ausfindig machen. Es sind solche Nachrichten, die Anja Allendorf vom Bundeskriminalamt ermutigen, der Identität einiger der 22 Frauen auf die Spur zu kommen.

"Wir haben mit der Kampagne die größtmögliche Öffentlichkeit hergestellt. Vielleicht meldet sich auch nach so langer Zeit ein Mitwisser oder Mittäter und wir bekommen den sogenannten entscheidenden Hinweis, vielleicht auch in anonymer Form. Dann hätte sich all die Arbeit, alles, was wir in diese Kampagne investiert haben, gelohnt."

Porträt eines blonden Manns im schwarzen Hemd
Oliver Pieper DW-Reporter und Redakteur