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Jaschin: "Ich will alles tun, um mein Volk zu befreien"

Vladimir Esipov
17. August 2024

Nach zwei Jahren Haft in Russland ist der russische Oppositionelle Ilja Jaschin in Deutschland in Freiheit. Wie war seine Zeit hinter Gittern, welche Pläne hat er und welchen Rat erteilt er westlichen Politikern?

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Portrait des russischen Oppositionellen und ehemaligen politischen Gefangenen Ilja Jaschin
Der russische Oppositionelle und ehemalige politische Gefangene Ilja JaschinBild: Vladimir Esipov/DW

Der russische Oppositionelle Ilja Jaschin war unter den politischen Gefangenen, die Moskau im Rahmen eines großen Austauschs mit dem Westen freigelassen hatte. Jaschin ist ein ehemaliger Moskauer Kommunalabgeordneter, ein Weggefährte des im Gefängnis verstorbenen Kremlkritikers Alexej Nawalny und des ermordeten Oppositionspolitikers Boris Nemzow. Im Dezember 2022 hatte ihn ein Moskauer Gericht wegen "Verbreitung falscher Informationen über die russische Armee" zu achteinhalb Jahren Haft verurteilt. Die Anklage stützte sich dabei auf seine Aussagen über die Beteiligung des russischen Militärs an der Tötung von Zivilisten im ukrainischen Butscha.

Im DW-Interview spricht Jaschin, der sich nun in Deutschland aufhält, darüber, wie er die Arbeit der Opposition aus dem Ausland koordinieren will und wie Europa der russischen Opposition helfen kann.

Deutsche Welle: Herr Jaschin, was sind Ihre ersten Eindrücke von Berlin und ihrer ersten zwei Wochen in Freiheit?

Ilja Jaschin: Es sind widersprüchliche Gefühle. Die Luft der Freiheit ist berauschend. Nach zwei Jahren Gefängnis ist es ein sehr schönes Gefühl, gehen zu können, wohin man will. Essen zu können, was man will und wann immer man will. Seine Angehörigen sehen und seine Freunde umarmen zu können. Und sich einfach ein Telefon nehmen und jemanden ohne Erlaubnis anrufen zu können.

Ilja Jaschin spricht mit einem Mikrofon in der Hand zu Menschen in Berlin nach seiner Freilassung
Rede von Ilja Jaschin in Berlin nach seiner FreilassungBild: Christophe Gateau/dpa/picture alliance

Doch von Zeit zu Zeit trifft mich der Gedanke wie ein Schlag, dass ich frei bin, während meine Kameraden weiterhin hinter Gittern sitzen. Das ist schwer. Manchmal habe ich das Gefühl, ich sei ein blinder Passagier, der im Flugzeug den Platz eines anderen einnimmt, obwohl ich gar nicht gefragt wurde. Mir ist schon klar, dass es nicht meine Schuld ist. Aber es ist ein sehr schmerzhaftes Gefühl.

"Exil ist eine neue Erfahrung"

Welche Pläne haben Sie?

Dazu kann ich nichts sagen - nicht weil ich es nicht will, sondern weil ich es noch nicht weiß. Das Exil ist eine neue Erfahrung für mich. Zuvor war ich Oppositionspolitiker in Russland, auch im Gefängnis. Jetzt bin ich Oppositionspolitiker im Ausland. Mir ist noch nicht ganz klar, wie das funktionieren kann.

Wie ist es denn, im Gefängnis ein Politiker zu sein?

Nun, Sie haben ja gesehen, wie ich im Gefängnis war. Ich habe aus dem Gerichtssaal eine politische Bühne gemacht. Das war meine Strategie - jeder Prozess verwandelte sich in eine Bühne. Bei den Gerichtsverhandlungen habe ich nicht über die Einzelheiten des Strafverfahrens gesprochen, sondern über Russlands Krieg gegen die Ukraine. Ich habe Putin einen Kriegsverbrecher genannt. In meinen letzten Worten vor der Urteilsverkündung habe ich über Kriegsverbrechen in Butscha gesprochen und den Abzug der Truppen aus der Ukraine gefordert. Vor Verwaltungsgerichten habe ich argumentiert, dass ich nicht unter den Status eines "ausländischen Agenten" falle. Ich bestand darauf, dass ich ein russischer Patriot bin. Ich habe Putin und den Krieg gegen die Ukraine immer kritisiert. Im heutigen Russland sind die Gerichte fast der letzte Ort, wo man noch frei reden kann. Ich habe versucht, diese Möglichkeit zu nutzen.

Das Treffen der freigelassener politischer Gefangener aus Russland mit Journalisten in Bonn (02.08.2024)
Pressekonferenz freigelassener politischer Gefangener aus Russland mit Journalisten in Bonn (02.08.2024)Bild: Florian Görner/DW

Man kann wohl kaum eine westliche Zeitung finden, in der nicht ein Interview mit mir erschienen ist. Mir war klar, dass Worte aus einem Gefängnis heraus viel größeres Gewicht haben als aus einem Berliner Café.

"Das Wichtigste ist, die Ukraine zu retten"

Man wird sie wahrscheinlich zu Treffen mit Abgeordneten des Bundestags und des Europaparlaments einladen und fragen, wie der Westen der russischen Opposition helfen kann. Was würden Sie sagen?

Das wurde ich schon gefragt - im Flugzeug von Ankara nach Köln saß ein Vertreter der Bundesregierung, der genau das wissen wollte. Meine Antwort war: Das Wichtigste, was man für die russische Opposition tun kann, ist die Ukraine zu retten.

Denn wenn Europa zulässt, dass Putin die Ukraine unterwirft, wird dies ein Schlag gegen das gesamte europäische Sicherheitssystem sein und den meisten europäischen Ländern große Probleme bereiten. Denn die ganze Sache wird nicht nur auf die Ukraine beschränkt bleiben. Appetit kommt beim Essen, und Putin wird nicht halt machen, er wird weitergehen. Die Geschichte kennt eine ganze Reihe ähnlicher Beispiele.

"Um Russland zu verändern, muss man im Land sein"

War Alexej Nawalnys Rückkehr nach Russland ein Fehler?

Nawalny ist aus den gleichen Gründen nach Russland zurückgekehrt, aus denen ich mich bis zuletzt geweigert hatte, das Land zu verlassen. Sowohl Nawalny als auch mir war vollkommen klar, dass man, um Russland zu verändern, im Land sein muss. Meine Priorität ist es, die öffentliche Meinung in Russland zu beeinflussen.

Was gibt Ihnen Hoffnung, dass sich die Situation in Russland noch zu unseren Lebzeiten ändern wird?

Erstens die Überzeugung, dass man im Recht ist. Ich weiß, dass die Werte, für die ich stehe, vorwärtsgerichtete Werte sind. Es sind die Werte des Humanismus, Fortschritts, der Freiheit und Gerechtigkeit. Das sind Werte, die den Menschen Güte und Licht bringen. Sich dessen bewusst zu sein, verleiht mir Kraft. Und zweitens sind es die Menschen. Ich sehe, wie viele Menschen in Russland meine Ansichten teilen. Während meiner zweijährigen Haft erhielt ich etwa 30.000 Briefe und Postkarten, fast alle aus Russland. Auch hier im Exil sehe ich, dass es viele solche Russen gibt. Allein in Berlin kamen zu dem Treffen mit den Oppositionellen über 3.000 Menschen.

Beim Treffen mit Journalisten in Bonn: Ilja Jaschin (im Vordergrund), Wladimir Kara-Mursa (im Hintergrund) an einem Tisch vor Mikrofonen
Beim Treffen mit Journalisten in Bonn: Ilja Jaschin (im Vordergrund), Wladimir Kara-Mursa (im Hintergrund)Bild: Florian Görner/DW

Ich glaube an mein Volk. Es verdient ein besseres Leben als das unter der heutigen Putin-Soldateska. Ich möchte alles tun, um mein Volk zu befreien und ihm die Möglichkeit zu geben, ein normales Leben zu führen.

"Kampf zwischen Freiheit und Tyrannei"

Was ist das Wichtigste, was Ihnen während Ihrer Zeit im Gefängnis über Russland bewusst geworden ist?

Mir ist klar geworden, dass man mit den Menschen reden kann und sollte. Man darf auf die Menschen nicht herabschauen. Man darf keine Angst vor Menschen haben, man muss auf sie zugehen. All das Gerede, wir seien die Elite und wüssten am besten, was die Menschen brauchen - mit einer solchen Haltung kann man Russland nicht verändern. Um das Land zu verändern, muss man mit den Menschen sprechen und ihnen seinen Standpunkt vermitteln.

Der Krieg in der Ukraine ist kein ethnischer Konflikt, sondern ein Kampf zwischen Freiheit und Tyrannei, zwischen Humanismus und Menschenfeindlichkeit. Die Frontlinie verläuft nicht nur durch die Ukraine, sondern auch durch Russland, wo Menschen inhaftiert und manchmal getötet werden. Es ist eine globale Konfrontation. Wladimir Putin ist der Anführer obskurer Kräfte. Und ich bin ein Vertreter der Kraft des Fortschritts und des Humanismus.

Das Gespräch führte Vladimir Esipov.